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Man sagt, irgendwo im Meer sei eine Insel, die die verlorene Insel genannt wird. Und man sagt, diese Insel besitze einen unschätzbaren Reichtum an allen möglichen Dingen, mehr als die Insel der Glückseligen. Sie gehört niemandem; sie ist die perfekte Insel.
Nun stellen wir uns vor, jemand erzählt von ihr und fragt sich, ob diese Insel wirklich existiert. Er argumentiert: Man kann keinen Zweifel haben, dass die Insel existiert, denn wir haben ja eine Vorstellung von ihr. Und weil eine Insel perfekter ist, die nicht nur in der Vorstellung ist, sondern auch in der Wirklichkeit, als eine, die nur in der Vorstellung existiert, muss die perfekte Insel auch in der Wirklichkeit existieren. Denn wenn dem nicht so wäre, wäre jedes Land, das existiert, egal wie perfekt sonst, perfekter als diese Insel.
Gaunilo: Pro insipiente [um 1078 n. Chr.]
Wie leicht zu sehen, ist Gaunilos Gedankenexperiment eine Antwort auf Anselms Ontologischen Gottesbeweis (aus Proslogion, 1078 erschienen). Gaunilo formuliert hier zum ersten Mal den Einwand, dass man mit Anselms Beweisstrategie die Existenz von allem möglichen beweisen könnte. Implizit wird außerdem die Frage gestellt, wieso die Existenz von etwas perfekter sein sollte als die bloße Vorstellung.
In der Encyclopedia of Philosophy diskutiert R. E. Allen diesen Widerlegungsversuch und weist darauf hin, dass Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae ihn wohlwollend aufgenommen habe. Er merkt aber an, dass schon Anselm in seiner Antwort an Gaunilo darauf hingewiesen habe, das Experiment von der Verlorenen Insel sei eine Petitio: Man könne nicht einfach annehmen, dass ein Begriff seine Anwendbarkeit nicht impliziert, um ein Argument zu widerlegen, welches von einem Begriff ausgeht, der es tut. Auch könne man nicht aus der Analogie argumentieren, wenn es um ein Konzept gehe, dass keine Analogien hat: das Konzept des 'Größten, von dem ein Größeres nicht vorgestellt werden kann'. Anselm meinte, dieses Konzept unterscheide sich gerade darin von anderen, dass sein Gegenstand eben nicht als nichtexistent vorgestellt werden könnte.
Auf der anderen Seite scheint Anselms Argument nicht weniger voraussetzungsreich zu sein, denn auch er behauptet schlicht, dass es ein Konzept gibt, das sich auf diese Weise von allen anderen unterscheide.