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gedankenexperimente:strassenbahnproblem

Straßenbahnproblem (Foot / Thomson)

Trolley problem

1. Quelltext

»Suppose that a judge or magistrate is faced with rioters demanding that a culprit be found for a certain crime and threatening otherwise to take their own bloody revenge on a particular section of the community. The real culprit being unknown, the judge sees himself as able to prevent the bloodshed only by framing some innocent person and having him executed. Beside this example is placed another […] [a man] is the driver of a runaway tram which he can only steer from one narrow track on to another; five men are working on one track and one man on the other; anyone on the track he enters is bound to be killed.«

  • Foot, Philippa: Abortion and the doctrine of the double effect. In: Oxford review 5 (1967), 5-15. https://philpapers.org/rec/FOOTPO-2. Foots Text ist auch enthalten in ihrem Aufsatzband Virtues and Vices (deutscher Titel: Die Wirklichkeit des Guten) und in zahlreichen Anthologien.
  • Thomson, Judith Jarvis: Killing, letting die, and the trolley problem. In: The monist 59 (1976), 204-217.

2. Szenario

Man stelle sich vor, Fahrer einer Lokomotive zu sein. Als die Lokomotive um eine Kurve fährt, kommen fünf Gleisarbeiter in den Blick, die das Gleis repariert haben. Das Gleis führt an dieser Stelle durch ein kleines Tal, mit hohen Seiten, die es den Gleisarbeitern unmöglich machen zu entkommen. Wenn man nicht bremst, werden sie überfahren. Natürlich tritt man auf die Bremse: aber nichts passiert, die Bremse ist kaputt. Da sieht man eine Weiche, die auf ein anderes Gleis führt. Dort ist nur ein Gleisarbeiter (der auch nicht entkommen kann). Darf man das Gleis wechseln und nur den einen Gleisarbeiter überfahren?

3. Kommentar

Foot entwickelt in ihrem Aufsatz verschiedenste Szenarien jeweils in Pärchen, um den relevanten Unterschied zu verdeutlichen. In dem Vergleich der Szenarien zwischen dem Richter, der den Unschuldigen aktiv ausliefert und dem Zugfahrer, der sich dafür entscheidet, durch aktive Steuerung den Tod von weniger Menschen in Kauf zu nehmen. Foot fragt, woran es liegt, dass die Handlung des Zugfahrers uns weniger fragwürdig erscheint als die des Richters, der den Unschuldigen ausliefert. Foot verwirft aber die Lehre von der Doppelwirkung und entscheidet sich stattdessen, zwischen positiven und negativen Pflichten zu unterscheiden. Eine positive Pflicht besteht darin, zu helfen, eine negative, Schaden oder Verletzung zu verhindern. Nach ihrer Ansicht wiegen negative Pflichten schwerer: „to refrain from inflicting injury ouselves is a stricter duty than to prevent other people from inflicting injury“. Dies unterscheidet auch den Richter-Fall vom Straßenbahnproblem, da in letzterem zwischen zwei negativen Pflichten abgewogen werden muss – sowohl der einzelne Arbeiter als auch die Gruppe von Arbeitern haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und der Fahrer damit die negative Pflicht, sie nicht zu verletzen. — Obwohl die Begrifflichkeit an dieser Stelle von Foot nicht zur Sprache gebracht wird, ist klar, dass sie implizit gegen eine rein (akt)utilitarische Betrachtungsweise argumentiert, die das handelnde bzw. verantwortliche Subjekt außer Acht lässt und nur die Handlungsfolgen betrachtet. Dabei betont Foot, dass ihr Vorschlag normale moralische Reaktionen erklärt, also wichtige moralische Eigenschaften der Szenarien beschreibt.

Thomson nimmt in ihrem Aufsatz das Szenario von Foot auf und erweitert es, versieht es mit Variationen, um unsere Intuitionen auszustesten. Ist 'Sterben lassen' besser als 'Töten'? Sie kommt zu dem Schluss, dass dies nicht immer so ist, sondern dass jeder Fall individuell betrachtet werden müsse.

Interessanterweise ist das Gedankenexperiment des Straßenbahnproblems einer experimentellen Untersuchung zugänglich – nämlich indem man es Versuchspersonen vorlegt und deren Entscheidung protokolliert. Das haben Wissenschaftler getan. Die interessanteste Erkenntnis daraus ist, dass es kulturelle Unterschiede in der moralischen Bewertung der Situation gibt und daher Unterschiede in den Entscheidungen.

4. Literatur

Enthalten in: Bertram 2012, 235-241; Levy 2017, 141-147; Tittle 2005, 168-169; Bossart 66f.

  • Edmond Awad, Sohan Dsouza, Azim Shariff, Iyad Rahwan, Jean-François Bonnefon: Universals and variations in moral decisions made in 42 countries by 70,000 participants. In: PNAS February 4, 2020 117 (5) 2332-2337. https://www.pnas.org/content/117/5/2332
  • Stefan Krempl: Trolley-Problem und Maschinen-Ethik: 82 Prozent der Deutschen würden einzelnen Menschen opfern. In: Heise online, abgerufen am 23.1.2020. https://heise.de/-4643841

5. Fachliche Einordnung

Siehe auch:

gedankenexperimente/strassenbahnproblem.txt · Zuletzt geändert: 2020/06/07 18:07 von jge