Und Elihu hob an und sprach:
Höret, ihr Weisen, meine Rede, und ihr Verständigen, merkt auf mich!
Denn das Ohr prüft die Rede, wie der Gaumen die Speise schmeckt.
Lasst uns ein Urteil finden, dass wir miteinander erkennen, was gut ist.
Das Buch Hiob
Wenn Ethik eine philosophische Disziplin ist, dann ist es eine Art Wissenschaft. Dann lässt sich wohl diese Frage beantworten, indem man den Untersuchungsgegenstand und die Untersuchungsmethode bestimmt. Erster Versuch: Ethik beschäftigt sich mit der Frage, ob das menschliche Dasein moralischen Maßstäben unterliegt, und wenn ja, welchen.
Gibt es solche Maßstäbe? Ist das eine empirische Frage, also eine, die durch Erfahrung entschieden werden kann? Wie sollten oder könnten solche Maßstäbe aussehen?
Wer nur beschreibt, was andere denken, sagen oder zeigen, dass man tun sollte, der betreibt beschreibende oder deskriptive Ethik. Das ist vielleicht was für Philosophen, aber wohl eher noch für Soziologen, Ethnologen und Historiker (wie haben sich die Leute früher verhalten?). Wer hingegen rauszufinden sucht, was man tun sollte, der betreibt normative oder vorschreibende Ethik. Und das ist das, worum es hier im folgenden geht.
Dazu gehört ein ganzer Haufen von Fragen und Problemen, die berücksichtigt werden wollen. Es ist darum nicht verkehrt, eingangs ein paar spezielle Begriffe zu klären; weitere kommen später hinzu. Wer glaubt, dass sich Philosophie ohne solche spezielle Begriffe betreiben lassen sollte, weil sie jeden angehe, macht es sich unnötig schwer; und er irrt außerdem. Jede Wissenschaft kartographiert ihren Gegenstand mit eigenen Begriffen, und zwar oft deshalb, weil es keine hinreichend genaue Bezeichnung in der Alltagssprache gibt. Andererseits gibt es auch Fachsprache, die das Gemeinte bloß kompliziert aussehen lässt. Solche möchte ich gern vermeiden. Ein dritter und letzter Gesichtspunkt: Fachsprachliche Begriffe zu beherrschen erlaubt die schnellere Lektüre von Beiträgen anderer.
Konventioneller Weise spricht man z.B. bei einem System von moralischen Regeln (oder Normen) auch von einer Ethik erster Ordnung. Wenn die Regeln sich vor allem im Handeln ausdrücken und nicht ausdrücklich, z.B. in einer Theorie, formuliert sind, kann man von einer Moral oder, wenn man ihren überlieferten Charakter hervorheben will, von Sitten sprechen.
Wann handelt jemand moralisch? Der Soziologe mit seiner deskriptiven Ethik würde sagen: In der Gesellschaft XY, die wir betrachten, gelten folgende moralische Regeln; wer diesen folgt, der handelt moralisch. Demgegenüber könnte ein Philosoph fragen: Diese Person hat den Regeln ihrer Gesellschaft entsprechend gehandelt, aber war das wirklich eine moralische Handlung? War das wirklich gut/richtig?
Mit einer solchen Frage würden zwei moralische Systeme verglichen: das, das der Soziologe beobachtet hat, und jenes, das der Philosoph für richtig hält. Wenn man Ethiken erster Ordnung vergleichen will, kann man sich der Mittel der Metaethik bedienen. Metaethik, das ist Ethik zweiter Ordnung: Nachdenken über das, was ethische Theorien ausmacht und welche Bedeutung die Ausdrücke haben, die in diesen Theorien vorkommen. Dass man dies tun sollte, zeigt ein kleines Beispiel. Wenn jemand für sich das Recht in Anspruch nimmt, eine „Notlüge“ zu machen, trifft er ein moralisches Urteil. Der Ausdruck „Lüge“ selbst ist nicht neutral, er enthält schon eine Wertung. Die Vorsilbe „Not-“ scheint diese Wertung abzumildern, etwa: Lügen ist zwar falsch, aber Notlügen sind erlaubt.
JEAN Du, Kristin!
KRISTIN Ja?
JEAN Ist doch merkwürdig, wenn man bedenkt! - Sie!
KRISTIN Was ist merkwürdig?
JEAN Alles!
Fräulein Julie, August Strindberg
Mhmm, die Frage kommt zu früh: Warum moralisch sein? Sie lässt sich schlecht beantworten, wenn man noch nicht über Moral als solche nachgedacht hat. Aber wo Probleme liegen, das lässt sich schon jetzt sagen.
Die Frage lässt sich nämlich auf zweierlei Weise verstehen. In einer konkreten Situation könnte sie soviel bedeuten wie „Warum soll ich mich gerade jetzt moralisch verhalten?“. Sie finden eine Brieftasche mit Personalausweis und 100 Euro drinnen. Warum sollten Sie sich da ein bisschen moralisch verhalten und die Brieftasche ins Fundbüro bringen, oder noch moralischer: den Inhaber ermitteln und benachrichtigen? Die Situation ist klar: Sie wissen, was das moralisch richtige Verhalten ist, und wägen es ab gegen, nun, etwas anderes. Es fällt Ihnen jetzt vielleicht auf, dass das unmoralische Verhalten Ihnen Vorteile bringt, während das moralische Verhalten nicht mit offensichtlichen Belohnungen winkt. Mit dieser Beobachtung könnten Sie sich die Frage allgemeiner stellen: „Warum soll ich überhaupt moralisch sein?“
Das Beispiel des Einzelfalls zeigt schon, dass die Frage „Warum moralisch sein?“ aus der Moral herausführt. Es würde nicht genügen, einen moralischen Grund anzugeben, denn für den können Sie ja wieder fragen, warum Sie ihn akzeptieren sollten. Im Beispiel oben ist mit dem Stichwort „Vorteil“ eine Art „Klugheitsgrund“ (für die andere Option) angegeben. Vielleicht ließe sich ja zeigen, dass es klüger oder mehr in Ihrem Interesse ist, moralisch zu sein, als den kurzfristigen Vorteil des Geldes zu suchen. Vielleicht bringt es gesellschaftliche Vorteile, moralisch zu sein: Ruhm und Ehre. Oder es nützt Ihrer Persönlichkeit (aber wer beurteilt das?).
Wer so argumentiert, geht stets davon aus, dass der Frager das tun möchte bzw. wird, wofür er Gründe hat - man könnte eben das „Klugheit“ nennen: Wer Gründe versteht und akzeptiert, der handelt nach ihnen, es sei denn, er hat stärkere Gegengründe. Ausgeschlossen sei damit zum Zwecke der Diskussion der hoffnungslose Fall des 'Irrationalisten'. Denn der Irrationalist ist keinen Gründen zugänglich. mit ihm lässt sich darum nicht diskutieren.
Zurück zur Frage. Warum man moralisch sein sollte, könnte damit zu tun haben, was Moral ist. Vielleicht ist Moral selbst nicht rational, in dem Sinne, dass sie keiner Gründe bedarf. Sie könnte sein wie Religion - ihre Anhänger glauben daran, aber sie können einem nicht erklären, wie man am besten selbst zum Glaubenden wird, wie man also ihr „Darum!“ zum eigenen macht. Um zu glauben, muss man 'einen Sprung' machen. Die Anhänger von Religionen sagen, dass ihr Glaube sie belohnt. Vielleicht belohnt die Moral den Moralischen?
Es könnte auch sein, dass die richtige ethische Theorie die Frage nach dem „Warum?“ überflüssig macht - jeder würde sofort sehen, warum man so handeln sollte, wie die Theorie empfiehlt. Dass wir jetzt noch Zweifel haben, ob oder warum wir moralisch sein sollten, zeigt nur, dass wir die richtige Theorie noch nicht kennengelernt haben!
Ich biete nachfolgend zwei weitere Standardtheorien an zum Moralischsein: a) Rechtfertigung über den Zweck: Moral ist dazu da, das menschliche Miteinander zu ermöglichen, so dass der und die Einzelne ihre Vorstellung vom guten Leben verwirklichen können. Warum moralisch sein? Damit jeder, jede Einzelne, und damit auch man selbst, sein gutes Leben leben kann. b) Rechtfertigung über den Grund: Gott weiß, was gut ist. Seinen Geboten zu folgen, heißt, das Gute zu tun. Warum moralisch sein? Weil Gott es geboten hat.
Die Antwort auf „Warum moralisch sein?“ hängt so mit Ihren Ansichten über das Leben, das Universum und den ganzen Rest zusammen. Wenn Sie nicht glauben, dass es einen Gott gibt, dann ist für Sie die Behauptung, dass er etwas befohlen hat, kein guter Grund, es zu tun. Meist spiegelt sich ein solches Weltbild in der verwendeten Sprache. Die Analyse von Bedeutung und Verwendung von Worten, die im moralischen Sinne (was immer das sein mag) verwendet werden können, ist darum ein gern beschrittener Weg metaethischer Untersuchung.
Daß die Deutschen das Beste an ihnen, ihre abstrakten Gedanken, mit weiblichem Artikel versehen, sei eine jener unbegreiflichen Barbareien, durch die sie ihre Verdienste wieder zunichte machen.
Die Blendung, Elias Canetti
Um die Sprache der Moral zu analysieren, braucht man – wie bei jeder Untersuchung – Kategorien, auf die sich die Beobachtungen beziehen lassen. Dabei können wir einzelne moralische Sätze betrachten oder die dahinterstehenden 'Theorien', das heißt: die Moralsysteme. Eine grundlegende Unterscheidung bei Moralsystemen ist die zwischen kognitivistischen und nonkognitivistischen. Das klingt doch auch gleich ganz wissenschaftlich.
Eine kognitivistische Moraltheorie geht davon aus, dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können. Wenn Sie z.B. der Meinung sind, dass es moralisch falsch und verwerflich ist, alten Damen die Handtasche zu klauen, dann fällen Sie ein moralisches Urteil, und Sie geben es weiter, weil Sie es für wahr halten. „Es stimmt, dass man alten Damen nicht die Handtasche klauen sollte“, könnten Sie denken. „Weil es gemein ist.“ - Dass Sie das moralische Urteil für wahr halten, zeigt, dass es wahr oder falsch sein kann.
Denken Sie daran, dass es hier darum geht, wie sich das Weltbild in der Sprache spiegelt. Wenn Sie meinen, dass manche moralischen Urteile wahr sind, manche falsch, dann meinen Sie, dass manche Dinge zu tun falsch ist, andere richtig. Etwas theoretischer ausgedrückt meinen Sie dann, dass es moralische Tatsachen gibt. Am Beispiel:
Aus: „Das moralische Urteil 'Handtaschenklauen ist verwerflich' ist wahr.“ Folgt: „Handtaschenklauen ist verwerflich.“
Eine nonkognitivistische Moraltheorie ist entsprechend eine, die vertritt, dass es keine moralischen Tatsachen gibt. Darum wären dann auch moralische Urteile nicht wahr oder falsch bzw. es gäbe keine moralischen Urteile. Wie hat man sich das vorzustellen? Und was meinen wir dann mit Sätzen wie „Handtaschenklauen ist verwerflich“, wenn wir damit nicht sagen können, dass Handtaschenklauen verwerflich ist?
Ein kleiner Umweg über die Verallgemeinerung: Was für Sätze können überhaupt wahr oder falsch sein, und welche Sätze können das nicht? Die meisten Sätze sind eindeutige Fälle. Fragen („Ist die Tür geschlossen?“) z.B. können nicht wahr oder falsch sein, Befehle oder Bitten („Mach bitte die Tür zu!“) auch nicht: Kandidaten für die Einordnung in das wahr/falsch-Schema sind Aussagesätze, oder, wenn man die Rolle und Funktion von Sätzen im Gespräch betrachtet, Behauptungen und Feststellungen.
An dieser Stelle könnte man tiefer einsteigen in die Sprachphilosophie und ein paar Sätze über Tautologien oder den Wahrheitswert von Behauptungen über Zukünftiges verlieren. Aber das ist nicht nötig, weil Sie und ich ja gewöhnlich wissen, was es bedeutet, wenn ein Satz wahr oder falsch ist. Hier genügt darum die triviale Feststellung, dass Sätze dann wahr sind, wenn der Fall ist, was sie behaupten: „Es regnet“ ist wahr, wenn es regnet.
Was bedeutet es, wenn moralische Urteile nicht wahr oder falsch sein können? Es bedeutet, dass es keine Prüfmöglichkeit für moralische Urteile gibt. „Es regnet“ prüft man am besten durch einen Blick aus dem Fenster. Aber wie prüft man „Du sollst nicht stehlen“? Nonkognitivisten meinen: Gar nicht. Und wenn man den Satz nicht prüfen kann, dann sollte man sich auch nicht darüber mit andern streiten - eben weil sich nicht prüfen lässt, wer recht hat.
Bleibt nur die Frage, was moralische Urteile sind, wenn sie keine Tatsachenbehauptungen sind. Eine Möglichkeit: Sie sind Geschmacksurteile. Sie sagen nicht etwas darüber aus, wie die Dinge sind, sondern nur, was ich darüber denke. Wenn ich Ihnen sagte: „Du sollst nicht stehlen“, wüssten Sie, dass ich Ihnen bloß sagen will, dass ich Stehlen für falsch halte, und Sie spüren natürlich, dass ich möchte, dass Sie Stehlen ebenfalls für falsch halten. Es hätte also etwas mit Einstellungen und Wünschen zu tun. Wenn Sie dann antworten, dass Sie Stehlen nicht für falsch halten, scheint die Diskussion an einem Ende - gerade wie wenn wir uns über die Schönheit oder Hässlichkeit eines Bildes austauschen würden.
Einen guten Überblick über die Geschichte der Frage „Warum moralisch sein?“ bietet der gleichnamige von Kurt Bayertz herausgegebene Sammelband:
Kurt Bayertz (Hg.): Warum moralisch sein?. - Paderborn : Schöningh, 2002.
Der Herausgeber hat außerdem selbst einen Antwortversuch vorgelegt:
Kurt Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein?. - München : Beck, 2004.
Der hier gestreifte Aspekt der Frage Wahrheit / Aussagesatz hat zu tun mit der Sprechakttheorie, die J.L. Austin in seinem gut zu lesenden How to do things with words entwickelt hat. Dazu mehr in Kapitel 2.