III Kognitivismus These: Es gibt moralischen Tatsachen III.1 Was ist Wahrheit? (2)
[3]
"Ich weiß, an was du denkst", sagte Dideldum, "aber so ist es nicht, gar nie nicht!" "Im Gegentum", fuhr Dideldie fort, "wenn es so wäre, mag es sein, und wenn es so sein mag, wäre es; aber weil es nicht so war, ist es nicht. Ist doch logisch, oder?"
Was Alice hinter dem Spiegel fand, Lewis Carroll
"Ich stimme dir völlig zu", sagte die Herzogin. "Und die tiefere Bedeutung davon ist: 'Scheine nie, was du bist', oder einfacher ausgedrückt: 'Glaube ja nicht, wen du vor dir hast, sonst scheinst du, was du nicht bist, und glaubst nicht, was du scheinst, was du bist, oder du scheinst, was du glaubst, wen du vor dir hast'!" Könnten Sie mir das vielleicht aufschreiben?" sagte Alice höflich. "Ich bin nicht ganz mitgekommen. Es war ein bisschen kompliziert." "Ach, wenn ich will, kann ich noch viel komplizierter sein!" erwiderte die Herzogin geschmeichelt.
Alice im Wunderland, Lewis Carroll
[4] Im folgenden geht's um moralische Theorien, die für sich in Anspruch nehmen, wahre moralische Urteile zu fällen: kognitivistische Theorien. Sie setzen voraus, dass es so etwas wie wahre moralische Sätze, objektiv gültige moralische Urteile gibt. Um zu verstehen, was das bedeutet, sollten wir noch einen zweiten Blick auf das Thema Wahrheit werfen.
[5] Von Austin war zu lernen, dass der Erfolg oder Misserfolg von sprachlichen Handlungen, also z.B. von Feststellungen oder Urteilen, von den Umständen abhängt, in denen sie versucht werden. Und zwar 1., weil manche Bestandteile einer sprachlichen Handlung ohne Kenntnis der Situation gar nicht verständlich sind: Wer ist das „ich“, das sagt: „ich taufe dich …“? 2., weil bestimmte Dinge der Fall sein müssen, die bei einer Äußerung stillschweigend vorausgesetzt werden, über die wir Bescheid wissen, wenn wir die Situation kennen.
[6] In der klassischen Logik gilt: ein sinnvoller (Aussage-)Satz ist entweder wahr oder falsch. Etwas drittes gibt es nicht: tertium non datur, wie es auf lateinisch heißt. Die Verneinung eines wahren Satzes ist dann falsch, die Verneinung eines falschen ist wahr.
[7] Nun lassen sich leicht Beispiele für Sätze finden, die durchaus sinnvoll aussehen, von denen aber sich nicht sagen lässt, ob sie wahr oder falsch sind. Ein berühmtes Beispiel, dessen Formulierung sein Alter ahnen lässt (es stammt von Aristoteles), ist: „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“. Stellen Sie sich vor, dass dies vom athenischen Feldherrn Perikles am Vorabend der Seeschlacht bei Salamis geäußert worden sei. Rückblickend ist das ein klarer Fall: ein wahrer Satz. Aber wie steht es, wenn man den Satz zum Zeitpunkt der Äußerung betrachtet? Um zu entscheiden, ob er wahr oder falsch ist, muss man wissen, was am folgenden Tag passieren wird. Das kann Perikles zwar höchst begründet vermuten; sicher wissen kann er es nicht. Der Satz ist demnach zum Zeitpunkt seiner Äußerung unentscheidbar: weder wahr noch falsch. Klar ist nur, dass er zu einem späteren Zeitpunkt wahr oder falsch sein wird. Man sollte sich klar darüber sein, dass diese Unentscheidbarkeit auch für Sätze gilt wie „Morgen wird die Sonne aufgehen“, denn auch hier wissen wir es nicht. Allerdings können wir beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass etwas dazwischen kommt (etwa, dass ein Meteorit auf die Erde fällt und sie zerstört). Wenn wir Grade von Wahrheit unterscheiden wollen, dann können wir „Morgen wird die Sonne aufgehen“ in höherem Maße als wahr ansehen als etwa „Morgen werde ich meinen Zug verpassen“. Aber wenn wir Grade von Wahrheit unterscheiden wollen, haben wir die zweiwertige Rede, das Tertium non datur, schon aufgegeben.
[8] Kommen wir nun zu ein paar weiteren Schwierigkeiten, wenn man sich über die Wahrheit oder Falschheit von Sätzen Gedanken macht.
[9] 1. die Verwendung von unbestimmten oder vagen Begriffen. Nehmen wir den Satz „München ist groß“. Waren Sie schon mal in München? Es ist ziemlich groß, jedenfalls für jemanden, der in einem oberbayerischen Dorf aufgewachsen ist. Einem Besucher aus Mexiko City (11 Mio Einwohner) hingegen könnte München als eine Art größerer Vorort erscheinen. Ist es also wahr, dass München groß ist, oder falsch? Oder beides? Das hängt hier vom vagen Wörtchen „groß“ ab.
[10] Vage können nicht nur Adjektive sein. Ein beliebtes Beispiel ist die sogenannte 'Haufen-Paradoxie', auch, nach dem griechischen Wort für 'Haufen', 'Sorites-Paradoxie' genannt. Sie funktioniert so:
[11] Sehen Sie den Haufen von Reiskörnern auf dem Tisch? Wenn Sie ein Körnchen wegnehmen, dann bleibt es doch sicherlich ein Haufen? Gilt also: „1 Reiskornhaufen minus 1 Korn gleich 1 Reiskornhaufen“? Nun wiederholen Sie das Wegnehmen, bis nur noch 10 Körner übrig sind: immer noch ein Haufen? (Das Argument ist eine „vollständige Induktion“, wie man sie im Mathematikunterricht in der Schule lernt.) Wo ist der Übergang vom Haufen zum Nichthaufen? Ab wieviel Körnern wird der Satz „Das ist ein Haufen“ falsch?
[12] 2. Kategorienfehler. „Grüne Ideen fliegen langsam“. Wahr oder falsch? Nonsense? Ideen sind Abstrakta, Farbe haftet materiellen Gegenständen an; Ideen und Farbe, das passt also nicht. Oder sollten wir den Satz metaphorisch betrachten? Dann wäre es vielleicht sinnvoll, ihn auszubuchstabieren, um über seine Wahrheit entscheiden zu können.
[13] 3. Ambiguität. Sie kennen das Spiel vom Teekesselchen. „Ich mag Schlösser“: ist das wahr oder falsch? Das hängt davon ab, ob von Wohnorten oder Sicherheitsvorrichtungen die Rede ist. Aber gehen wir einfach davon aus, dass in bestimmten Äußerungskontexten klar ist, was gemeint war, oder durch Nachfragen leicht herausgefunden werden kann.
[14] 4. Verletzte Voraussetzungen. Auch ein berühmtes Beispiel (von Bertrand Russell in On denoting): „Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze“. Wahr oder falsch? Zweiwertig betrachtet gilt ja, dass wenn der Satz falsch ist, seine Verneinung wahr ist. Ist es also falsch, dass der gegenwärtige König von Frankreich eine Glatze hat, dann ist es wahr, dass der gegenwärtige König von Frankreich keine Glatze hat? Oder wo liegt der Fehler?
[15] Logisch müssen hier verschiedene Möglichkeiten der Verneinung unterschieden werden. Der Beispielsatz „Der gegenwärtige König von Frankreich hat eine Glatze“ setzt voraus, dass es gegenwärtig einen König von Frankreich gibt. Wenn Sie den Satz wie oben verneinen, dann bleibt diese Voraussetzung davon unberührt. Man muss sich also anders ausdrücken. Zum Glück bietet die Sprache dafür viele Möglichkeiten; sie könnten z.B. sagen: „Es ist nicht der Fall / es ist nicht wahr, dass der gegenwärtige König von Frankreich eine Glatze hat“. Dann ist nichts darüber gesagt, ob es diesen König überhaupt gibt. Man nennt dies „äußere“ oder „dementierende“ Verneinung. Man kann dies noch, wenn man möchte, vom Falschheitsprädikat unterscheiden: „Es ist falsch, dass der gegenwärtige König von Frankreich eine Glatze hat“. Der Unterschied zwischen diesen Typen von Verneinung wird aber nur dann wichtig, wenn man tiefer in die Logik der Wahrheitswerte eintaucht und dabei mehr als 'wahr' und 'falsch', das heißt: mehr als zwei Werte, zulässt. Das Falschheitsprädikat heißt dann soviel wie 'definitiv falsch', während die dementierende Verneinung 'nicht wahr' ja auch die 'unbestimmten', die „Ich weiß es nicht“-Sätze umfasst. III.2 Wovon handeln moralische Urteile?
[17] Damit moralische Urteile wahr oder falsch sein können, dann müssen sie etwas über die Welt behaupten, oder jedenfalls über bestimmte moralisch wichtige Bestandteile von ihr. Wovon handeln moralische Urteile?
[18] Das lässt sich sicher nicht empirisch klären. Wie moralische Urteile tatsächlich gefällt werden, sagt schließlich nichts darüber, wie sie gefällt werden sollten. Nun scheint auch hier, wie bei der Frage „Warum moralisch sein?“ gleich ein Zirkel zu drohen, nämlich dann, wenn das „sollen“ seinerseits als eine moralische Verpflichtung verstanden wird. Die Schwierigkeit lässt sich kaum vermeiden, wohl aber sichtbar machen.
[19] Nun also ein paar Überlegungen. Wovon moralische Urteile handeln, hängt von der dahinterstehenden moralischen Theorie ab und davon, worin diese das moralisch Wertvolle erblickt. Nehmen wir an, das Ziel der Moraltheorie sei ein gutes und gelingendes Leben des Einzelnen. Wie kommt er dahin? Die kurzschlüssige Antwort ist: indem er das tut, was dafür nötig ist. Dann würde die Theorie Handlungen als ihren bevorzugten Gegenstand betrachten. Eine recht alte moralische Theorie spinnt aber den Faden weiter und meint, dass ein guter Charakter das wesentliche Element sei; und diesen guten Charakter könne man sich einüben durch die Gewöhnung an gutes Handeln. Das Muster für die guten Handlungen sind die dahinterstehenden Tugenden. Wer heute einmal großzügig mit Freunden teilt, der tut das am besten, wenn und weil er großzügig ist, nicht weil er ein einziges Mal Lust hat, großzügig zu sein.
[20] Der Typus der Tugendethik hat in jüngerer Zeit eine gewisse Renaissance erlebt (etwa bei Alastair MacIntyre oder Philippa Foot), und das nicht zu Unrecht: die Theorie sagt mir nicht nur für eine konkrete Handlung, ob ich diese tun sollte, sondern sie beantwortet überhaupt die Frage, wie ich leben sollte. Eine Tugendethik hat keine Lücken; sie sagt uns sogar, wie wir unsere Kinder erziehen sollten – nämlich zu den von ihr ausgezeichneten Tugenden. Und glaubt man Aristoteles, ist das richtige, tugendhafte Leben eben ein gutes Leben, eines, das man gern lebt und das sich zu leben lohnt.
[21] Ob jemand eine bestimmte Tugend besitzt, wird allerdings nur erkennbar in seinen Handlungen. Man könnte sagen, dass Tugenden ihren Wert letztlich dadurch erhalten, dass sie einen dazu bringen, gewohnheitsmäßig richtig / gut zu handeln. Betrachtet man die Sache so, steht eine Tugendethik in einem abgeleiteten Verhältnis zur moralischen Beurteilung von Handlungen. Darum denke ich, spricht erst einmal nichts dagegen, Handlungen als ersten Gegenstand des moralischen Urteilens zu betrachten. Das macht es übrigens auch leichter, moralische Urteile zu fällen, denn zu Handlungen anderer haben wir unmittelbaren Zugang, indem wir sie erleben; zu ihrem Charakter (und damit zu ihrer Tugendhaftigkeit als solcher) nur mittelbaren. Was das bedeutet, sieht man am folgenden Beispiel: Der kleine Peter hat mit seinem Fußball das Fenster zerschossen. Die Eltern fragen ihn, ob er es war. Er gibt die Tat zu, statt zu lügen. Tut er dies, weil er ein ehrlicher Junge ist (Tugend?), oder tut er es, weil er sich keine Chance ausrechnet, mit einer Lüge durchzukommen? Schwer zu entscheiden, würde ich sagen. Betrachtet man nur die Handlung, muss man sich um Peters Tugendhaftigkeit keine Gedanken machen.
[22] Werden Handlungen in einer Theorie moralisch beurteilt, kann man sie moralisch „richtig“ und „falsch“ nennen, das sind die Extreme. Aber sicher gibt es in vielen ethischen Theorien Handlungen, die weder das eine noch das andere sind: in der Ethik gibt es oft ein Drittes! Ich würde solche Handlungen moralisch unbedenklich und damit 'erlaubt' nennen. III.3 Der Utilitarismus (nach John Stuart Mill)
[24]
Das Wort "Armut" war ein schönes, irgendwie edles Wort. Es gingen von ihm sofort Vorstellungen wie aus alten Schulbüchern aus: arm, aber sauber. Die Sauberkeit machte die Armen gesellschaftsfähig. Der soziale Fortschritt bestand in der Reinlichkeitserziehung. Das Elend war dann für die Betroffenen selber nur noch der Schmutz der Asozialen in einem anderen Land. "Das Fenster ist die Visitenkarte des Bewohners." So gaben die Habenichtse gehorsam die fortschrittlich zu ihrer Sanierung bewilligten Mittel für ihre eigene Stubenreinheit aus. Im Elend hatten sie die öffentlichen Vorstellungen noch mit abstoßenden, aber gerade darum konkret erlebbaren Bildern gestört, nun, als sanierte, "ärmere Schicht", wurde ihr Leben so über jede Vorstellung abstrakt, dass man sie vergessen konnte. Vom Elend gab es sinnliche Beschreibungen, von der Armut nur noch Sinnbilder.
Wunschloses Unglück, Peter Handke
[25] Übrigens kann man keinen ausdrücklich perlokutiven Akt formulieren: „Ich überzeuge Sie, dass …“ ist ebenso eine missglückte Äußerung wie „Hiermit beleidige ich Sie!“. – Für den Zusammenhang hier ist die Perlokution eine Dreingabe; interessanter ist die Untersuchung der illokutionären Akte. Und damit…
[26] Der Utilitarismus ist eine kognitivistische Theorie, wie sie im Buche steht, genauer: in vielen Büchern. Er vertritt nicht nur, dass sich die Qualität einer Handlung bestimmen lässt, sondern er meint auch, darüber hinausgehend ein Kriterium angeben zu können, das einer objektiven Überprüfung standhält: ein großes Programm. Vermutlich hat deswegen der Utilitarismus immer wieder Bearbeitungen erfahren und Verfechter gefunden; er ist die meistdiskutierte normative Theorie.
[27] Die Grundzüge der Theorie sind natürlich in den meisten Vorschlägen einander ähnlich – sonst verdienten sie ja nicht einen gemeinsamen Namen. Der Einfachheit halber betrachte ich diese anhand der „philosophisch anspruchvollste[n] Verteidigung, die der utilitaristischen Ethik […] zuteil geworden ist“ (117) wie Dieter Birnbacher in seinem Nachwort formuliert, einem schmalen Bändchen namens Der Utilitarismus von John Stuart Mill (1806-1873). Das sei (so ebenfalls Birnbacher ebenda) „im angelsächsischen Sprachraum der meistgelesene, meistdiskutierte und wohl auch meistkritisierte moralphilosophische Text überhaupt“ ist. Jaja.
[28] Woher kommt der Name der Theorie? „Utilis“, lateinisch, etwa: „nützlich, brauchbar“. Die Bezeichnung weist auf einen wesentlichen Punkt der Theorie. Der Utilitarismus beurteilt Handlungen nach ihrer Nützlichkeit für einen bestimmten Zweck. „Jegliches Handeln hat einen Zweck“, so Mill, „und es ist nur natürlich, anzunehmen, dass die Eigenart und besondere Färbung einer Handlungsregel dem Zweck entsprechen muss, dem sie dienen soll“ (4). „Ein Maßstab für Recht und Unrecht muss, sollte man meinen, ein Hilfsmittel zur Feststellung von Recht und Unrecht sein und nicht das Ergebnis einer solchen Feststellung“ (5). Mill glaubt also nicht, dass es eine an sich schon vorhandene Wertordnung gibt. Wir brauchen, bevor wir unsere Wertordnung aufbauen, einen Maßstab zur Beurteilung von Handlungen, und der soll darin bestehen, dass sie gemäß ihrer Nützlichkeit beurteilt werden.
[29] Das klingt etwas unmoralisch: sollten Handlungen nicht danach beurteilt werden, ob sie „gut“ oder „schlecht“ sind? Aber Mill ist ja noch nicht fertig. Daher sollte man mehr Geduld haben als so mancher Kritiker, der schon an dieser Stelle das Buch enttäuscht beiseite legte. Die entscheidende Frage lautet: Wozu soll eine Handlung nützlich sein? Was ist ihr Zweck? Mill hat dafür eine griffige Formulierung parat, mit der er Jeremy Bentham (1748-1832) zitiert: zum „größten Glück der größten Zahl“. Birnbacher merkt an (118), Bentham habe diese Formulierung von Claude Adrien Helvétius (Paris, 1715-1771) übernommen, sie sei aber schon bei Francis Hutcheson (1694-1774) anzutreffen. Trotzdem muss Bentham als der Erfinder des Utilitarismus gelten. Sein Werk An Introduction to the Principles of Morals and Legislation (London 1789) entwickelt systematisch erstmals den klassischen Utilitarismus. Das Werk ist gleichwohl nicht frei von argumentativen Schwächen; ebendiese zu überwinden schrieb Mill seinen Essay. Mill im (übersetzten Beinahe-) O-Ton:
[31]
Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter 'Glück' [happiness] ist dabei Lust [pleasure] und das Freisein von Unlust [pain], unter 'Unglück' [unhappiness] Unlust und das Fehlen von Lust verstanden. Damit die von dieser Theorie aufgestellte Norm deutlich wird, muss freilich noch einiges mehr gesagt werden, insbesondere darüber, was die Begriffe Lust und Unlust einschließen sollen und inwieweit dies von der Theorie offengelassen wird. Aber solche zusätzlichen Erklärungen ändern nichts an der Lebensauffassung, auf der diese Theorie der Moral wesentlich beruht: dass Lust und Freisein von Unlust die einzigen Dinge sind, die als Endzwecke wünschenswert sind, und dass alle anderen wünschenswerten Dinge (die nach utilitaristischer Auffassung ebenso vielfältig sind wie nach jeder anderen) entweder deshalb wünschenswert sind, weil sie selbst lustvoll sind oder weil sie Mittel sind zur Beförderung der Lust und zur Vermeidung von Unlust. (13)
[32] Wenn 'Glück' und 'Unglück' im skizzierten Sinne der Endzweck allen Handelns sind – das ist eine beschreibende These darüber, wie Mill glaubt, dass die Menschen wirklich sind, keine normative –, dann bleibt nur die Frage, ob mir mein eigenes 'Glück' an erster Stelle stehen soll oder ob ich das Glück der andern berücksichtigen muss. Damit kein belangloser Egoismus daraus wird, fordert Mill das letztere, mit einem Bentham-Zitat: „Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen“ (108) - das Nützlichkeitsprinzip gilt für alle und nimmt das Glück eines jeden gleich wichtig! So unmoralisch ist die Theorie also nicht, stattdessen gehorcht sie der Intuition, dass Ethik etwas damit zu tun hat, wie man die andern und die Umwelt behandelt. Man muss bei seinen eigenen Handlungen deren 'Glück' im Blick haben, und zwar jeden einzelnen von ihnen so sehr wie sich selbst. Oder anders ausgedrückt: Man darf sich gerade nicht wichtiger als die anderen nehmen.
[33] Wie entscheidet man, ob eine Handlung dazu geeignet ist, das 'Glück' aller zu befördern? Man müsste als erstes wissen, was 'glücklich' macht. Man müsste das allerdings nicht nur für sich selbst wissen, sondern für jeden. Nun ist die Definition von 'Glück', die Mill gegeben hat, kaum brauchbar. Natürlich kann man spekulieren, dass er mit 'Lust' und 'Unlust' einen angenehmen bzw. unangenehmen Gemütszustand gemeint hat. Ein solches Konzept von 'Lust' benutzt etwa Aldous Huxley in seiner negativen Utopie Schöne neue Welt (Brave new world); die Regierung des totalitären Staates sorgt dort für das Wohl der Bürger, indem sie ihnen z.B. Drogen zur Verfügung stellt, die eben einen solchen angenehmen Gemütszustand zuverlässig herstellen. Das klingt nicht sehr wünschenswert. Robert Nozick geht in einem Gedankenexperiment in seinem Buch Anarchy, State and Utopia (1974) ebenfalls dieser Frage nach. Er entwirft eine 'Experience machine', eine Maschine, die über eine direkte Schnittstelle zum Hirn fähig ist, einem Menschen jegliche Art von angenehmer, erwünschter Erfahrung zu verschaffen, indem sie die Nerven entsprechend stimuliert. Er fragt, ob man wünschen kann, statt ein wirkliches Leben eines zu leben, dass komplett in dieser Maschine stattfindet, in der einem alle Wünsche erfüllt werden. Das Gedankenexperiment läuft darauf hinaus, dass für ein glückliches Leben ein bestimmter Typ von Freiheit unverzichtbar ist. Ein angenehmer Gemütszustand allein ist darum keine hinreichende Bedingung für Glück.
[34] Übrigens war auch dies ein Angriffspunkt für die ersten Kritiker, weil sie davon ausgingen, dass derlei angenehme Gemütszustände im wesentlichen auf Sinneseindrücken beruhen, sich womöglich herstellen lassen, indem man sich auf Essen, Trinken und Sex beschränkt. Mill hat gesehen, dass hier seine Theorie keine befriedigende Antwort bietet. Aber wie könnte eine solche überhaupt aussehen?
[35] Es ist denkbar, dass sich – durch gewissenhafte Beobachtung der Menschen – etwas herauskristallisiert, was 'glücklich' macht. Die Theorie darf, wie Mill das tut, Rücksicht darauf nehmen, was die Menschen wirklich wollen; es besteht kein Grund, einen Begriff von 'Glück' zu vertreten, der notwendig und ohne Rückgriff auf Erfahrung gilt. Kants lässige Behauptung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), dass niemand genau angeben könne, was denn zum Glück nötig sei, stimmt ja vielleicht gar nicht.
[36] Aber selbst wenn sich das befriedigend angeben ließe, bliebe die Frage, wie das 'Glück' sich mengenmäßig bestimmen lässt. Denn damit jeder gleich wichtig genommen wird, muss der Glückszuwachs bzw. der Glückverlust, den eine Handlung bei einzelnen bewirkt, irgendwie in Erfahrung zu bringen und zu vergleichen sein.
[37] Die Art der Berechnung des 'Glücks' als Folge von Handlungen ist eines der wesentlichen unterscheidenden Merkmale verschiedener Utilitarismus-Theorien. Mill macht dazu keine Angabe, und das ist vielleicht ganz klug so, denn eine solche Berechnung kann zwar beliebig kompliziert gedacht werden, aber für die ethische Praxis hat Mill wohl einfach an eine Art Überschlagung der erwartbaren Folgen auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen gedacht. Trotzdem gelten dieser Frage die meisten Einwände gegen den Utilitarismus. Der geläufigste ist, man müsse theoretisch vor jeder Entscheidung den zu erwartenden Nutzen (das 'Glück') der möglichen Handlungen genau bestimmen, um richtig entscheiden zu können. Das sei so kompliziert, dass dann praktisch keine Entscheidungen mehr getroffen werden könnten. Dieser Einwand begreift den Utilitarismus als „Aktutilitarismus“, eben bezogen auf die Einzelhandlung. Die Theorieevolution führte zur Entwicklung einer „fitteren“ utilitaristischen Theorie, des sogenannten „Regelutilitarismus“. Der besagt, dass es nicht um den zu erwartenden Nutzen einzelner Handlungen gehe, sondern dass moralische Normen, Handlungsregeln, mit Blick auf ihre erwartbaren Folgen für die Glückskonten der Menschen betrachtet werden müssen. Damit landet man bei einfacheren Überlegungen wie: Die Wahrheit sagen hat in der Regel gute Folgen, darum soll man die Wahrheit sagen. (Die Normen dürfen selbstverständlich auch komplizierter sein.) Zur Unterscheidung von Aktethik und Regelethik folgt übrigens weiter unten noch etwas im Abschnitt VI.1.
[38] Auch mit dieser Vereinfachung sind die Schwierigkeiten aber nicht behoben. Ich zitiere nachfolgend den Standardeinwand, hier in der Form, wie William Frankena ihn in seiner Einführung Analytische Ethik 1963 formuliert hat: [39]
Angenommen, wir haben zwei Regeln, R1 und R2, die nicht beide unserer Moral einverleibt werden können. Für jede dieser beiden Regeln kennen wir die Ergebnisse ihrer allgemeinen Befolgung (was freilich in der Praxis schwer zu erreichen ist) und finden, dass in beiden Fällen das Übergewicht von guten gegenüber schlechten Folgen -- auf lange Sicht gesehen und für alle Betroffenen -- das gleiche ist. Dann muss der Regelutilitarist sagen, dass R1 und R2 als moralische Handlungsprinzipien die gleiche Funktion erfüllen und dass beide gleich annehmbar sind. Es könnte jedoch der Fall sein, dass sie das in gleichem Umfang realisierte Gute in verschiedener Weise verteilen: In Befolgung von Regel R1 könnte alles einer relativ kleinen Gruppe von Personen zukommen, ohne dass diese es besonders verdient haben (an dieser Stelle den Gesichtspunkt des Verdiensts ins Spiel zu bringen, widerspricht im übrigen bereits dem Utilitarismus); in Befolgung der Regel R2 dagegen könnte es gleichmäßiger unter einem größeren Teil der Bevölkerung verteilt werden. In diesem Fall, so scheint mir, müssen und würden wir wohl auch sagen, dass R1 eine ungerechte Regel ist und dass R2 moralisch den Vorzug verdient. Wenn das richtig ist so müssen [...] wir den Regelutilitarismus aufgeben.
[40] Ein Hoch auf Beispiele! Dieses Beispiel setzt einen Fall voraus, den ich mir kaum vorstellen kann: dass zwei verschiedene Regeln, die den Nutzen extrem unterschiedlich verteilen, trotzdem die gleiche „Nutzensumme“ haben. Schwierig finde ich diese Voraussetzung auch und vor allem deswegen, weil in dem vorgestellten Fall die Art der Verteilung zum Glück oder Unglück beiträgt: Da bekommt jemand etwas ab und ich nicht, also bin ich vielleicht neidisch – und Neid ist sicher eine Form von 'Unlust'. Frankena müsste, denke ich, erst einmal zeigen, dass der behauptete Fall tatsächlich möglich ist. Wenn er möglich ist, dann sehe ich nicht ein, wieso eine derartige Verteilung unmoralisch sein sollte. Frankenas Einwand setzt nämlich einen Begriff von Moral voraus, der dem Utilitarismus vorgeht. Das ist unfair, weil der Utilitarismus schließlich eine Theorie darüber ist, was moralisch ist: sie sagt uns erst, was moralisch ist. Frankena hat eigentlich nur zwei konkurrierende Moraltheorien verglichen, nämlich seine eigene, unausgesprochene, und die utilitaristische. Dann stellt er fest, dass beide voneinander abweichen und dass ihm die eigene besser gefällt. Wollte man Frankenas Kritik präziser und angemessener formulieren, dann müsste der Einwand lauten, dass der Utilitarismus die eigene Intuition darüber verletzt, was moralisch zulässig ist und was nicht. Aber das überzeugt für sich allein betrachtet nicht: Man könnte ja mit seiner Intuition schlicht falsch liegen! Überdies müsste man deutlich machen, warum überhaupt die moralische Intuition für die moralische Urteilsbildung eine Rolle spielen soll. – Ich möchte noch darauf aufmerksam machen, dass Frankena oben kommentarlos von der 'Ungerechtigkeit' der Handlung zu ihrer 'Unmoral' übergeht. Das fällt deswegen kaum auf, weil 'Gerechtigkeit' und 'Ungerechtigkeit' Konzepte sind, die sowohl beschreibende als auch appellative Bedeutungskomponenten haben – solche Fälle wurden im letzten Kapitel besprochen.
[41] Mit „Das ist gerecht“ kann man beschreibend in einem ganz technischen Sinne ausdrücken, dass, z.B., ein bestimmtes Gut auf die-und-die Weise verteilt wurde: „Ich habe den Kuchen gerecht verteilt, jeder hat ein gleich großes Stück bekommen“. Aber man drückt zugleich aus, dass diese bestimmte Art zu teilen die richtige, moralisch einwandfreie ist. Nun hängt, das sei ruhig wiederholt, was „moralisch einwandfrei“ genannt werden darf, davon ab, was man unter Moral versteht. Beispielsweise widerspricht es meinem Gerechtigkeitsgefühl nicht, wenn man in passenden Fällen nach Verdienst oder nach Bedürfnis teilt. So empfinde ich es als gerecht, wenn nicht alle Bürger des Staates in gleichem Maße Sozialleistungen beziehen, sondern wenn die, die selbst weniger besitzen, mehr bekommen, als die, die mehr besitzen. Dieser Typ von Verteilung lässt sich, vielleicht, ja auch auf die 'glücklichen' Folgen einer Handlung anwenden. In Frankenas Beispiel könnten die wenigen Menschen, die nach der Regel R2 begünstigt werden, glücksbedürftiger sein als die anderen, nach Regel R1 begünstigten. So betrachtet wäre es gerecht, weniger Menschen mit mehr zu bedenken als das Glück nach dem Gießkannenprinzip zu streuen. Eines meiner Lieblingsbeispiele aus der Literatur für genau diesen Sachverhalt ist das sogenannte 'Glücks-' oder 'Zufriedenheitsmonster'; es dient allerdings dazu, das Prinzip der gerechten Ungleichverteilung in Zweifel zu ziehen. Ich zitiere hier aus Julian Nida-Rümelins Kritik des Konsequentialismus (S. 57):
[42]
Gäbe es eine ungewöhnliche Person, deren Zufriedenheit sich unbegrenzt steigern ließe, z.B. durch den Genuss einer bestimmten Droge, dann ist es unter bestimmten empirischen Bedingungen denkbar, dass die gesamte Produktivität einer Gesellschaft unter utilitaristischer Beurteilung ausschließlich dazu verwendet werden müsste, diesem Zufriedenheitsmonster zu dienen. Da es vermutlich ein solches Wesen nicht gibt, sind die kontraintuitiven Schlussfolgerungen des Utilitarismus aus kontingenten Gründen scheinbar irrelevant, trotzdem weisen sie auf ein Charakteristikum des Utilitarismus hin, nämlich dass eine bestimmte Größe (sei es Zufriedenheit, Glück, Lust o.a.) zum Kriterium des moralisch Richtigen wird, von der zwar anzunehmen ist, dass sie ohne menschliche (oder tierische) Träger nicht existieren kann, deren personale Verankerung jedoch unberücksichtigt bleibt.
[43] Nida-Rümelin meint, dass im Utilitarismus „Personen in einem bestimmten Sinne als unwesentlich für die ethische Beurteilung angesehen werden“ (ebenda). Ich vermute, dass Mill diesen Punkt auch gesehen hat. Man merkt das an seinem Versuch, 'Glück' nicht nur nach der Quantität, sondern auch nach der Qualität zu beurteilen: „Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedenes Schwein; besser, ein unzufriedener Sokrates, als ein zufriedener Narr. Und wenn der Narr oder das Schwein anderer Ansicht sind, dann deshalb, weil sie nur eine Seite der Angelegenheit kennen“ (18).
[44] Überzeugt? Ich bin es nicht. Ich halte es für möglich, dass man als glücklicher Narr besser dran ist. Die Begriffe „Narr“ und „Schwein“ sind schon abwertend; sie beschreiben keine neutrale Wahlmöglichkeit. Hier steht die Kultiviertheit, das Geistige des Philosophen, gegen die sinnlichen und dummen Genüsse von Schwein und Narr. Oder etwas deutlicher: Das Glück von Menschen vom Schlage Mills möge wichtiger sein als das von Wilden oder von Angehörigen niederer Schichten, Robinson Crusoes wichtiger als das Freitags.
[45] Mill schreibt das nicht; sondern stattdessen eben, das manche Freuden besser seien als andere. Aber diese These passt gar nicht in den Utilitarismus hinein! Was für ein Kriterium sollte es dafür geben, welche Freuden besser sind, wenn 'Intensität über Zeit' nicht gilt? Nein, der Utilitarismus braucht, mehr als eine Hierarchie des Glücks, eine Anleitung, wie sich das Glück messen lässt. Was dann diese Messung verursacht, welche Ereignisse eine Glücksempfindung hervorrufen, das ist ihm egal.
[46] Mit dem Glücksmonster lässt sich fertig werden, wenn man Benthams „jeder zähle als einer“ entsprechend interpretiert: die individuell erreichbare Glücksmenge jedes Wesens sei 1, die minimale 0. Dann kann das 'Glück' des Glücksmonsters, auch wenn's intensiver erlebt wird, nicht stärker als das anderer gewichtet werden.
[47] Trotzdem bleiben Schwierigkeiten. Eine Handlung auf ihre Nützlichkeit hin zu beurteilen bedeutet, sie nach ihren Folgen, ihren Konsequenzen zu bewerten. Elizabeth Anscombe hat für derlei Theorien den Begriff 'Konsequentialismus' geprägt. Man müsste natürlich präziser sagen, dass es um die erwarteten Folgen von Handlungsweisen oder -regeln geht, nicht um die tatsächlichen Folgen von Einzelhandlungen. Sonst könnte es sein, dass Handlungen, die in böser Absicht ausgeführt werden, aber zufällig gute Folgen haben, vom Utilitarismus moralisch als gute Handlungen ausgezeichnet würden. Günther Patzig zeigt dies in seinem Plädoyer für utilitaristische Grundsätze in der Ethik an einem Beispiel: Jemand versucht, einen Bekannten zu erstechen, aber mangels Übung trifft er ihn nicht tödlich. Der Verletzte wird ins Krankenhaus gebracht. Im Rahmen der Routinediagnostik entdeckt man einen Tumor, der sonst unentdeckt geblieben werde. Der Tumor wird entfernt.
[48] Es scheint, als habe die böse Absicht (Bekannten verletzen) eine gute Folge (Leben gerettet). Beurteilt man nur die Folgen moralisch, könnte man kaum umhin, die Handlung zu loben. Aber das erscheint absurd.
[49] Wenn man das Problem abstrakter behandelt, sieht man leichter, wo der Hund begraben liegt. Die Frage, ob eine Handlung gut ist, stellt sich schließlich, bevor man handelt. Mäße man die Qualität der Handlung nach den tatsächlichen Folgen, wüsste man erst, ob eine Handlung moralisch erlaubt oder 'gut' ist, nachdem man sie getan und ihre Folgen beobachtet hat. Als Moraltheorie wäre eine solche Theorie nicht zu gebrauchen, denn eine Moraltheorie soll handlungsleitend wirken: sie soll mir sagen können, ob meine Handlung richtig oder falsch, gut oder schlecht sein wird. Darum muss, wenn überhaupt, von den gedachten, erwarteten Folgen ausgegangen werden, wobei natürlich in einer moralischen Rechtfertigung plausibel zu zeigen wäre, dass diese Folgen tatsächlich zu erwarten gewesen sind. Das ist häufig ein Streitpunkt dort, wo es um Handlungsfolgen geht, man denke an politische Entscheidungen, an den Umweltschutz, Bioethik und ähnliches.
[50] Wenn schon die faktischen Auswirkungen schwer vorauszusagen sind, wieviel schwieriger dürften die Auswirkungen einer Handlung auf das 'Glück' der Menschen zu bestimmen sein (ganz egal, wie man dieses definiert hat)! Ich halte also den Utilitarismus nicht für eine überzeugende, anwendbare Moraltheorie; übrig bleiben nur mehr Theorien, die sich zwar Utilitarismus nennen, aber nicht wirklich einer sind (wie Richard M. Hares „Präferenzutilitarismus“, siehe Kapitel VII). Zwei wichtige Gedanken bleiben jedoch in der Diskussion: a) das Prinzip der Unparteilichkeit (ein Aspekt des Problems der Verallgemeinerung), b) der Versuch, das Gute nachvollziehbar zu bestimmen. Man kann letzteres bejahen, während man den utilitaristischen Vorschlag ablehnt. Nietzsche hat seine Ablehnung besonders schön formuliert. Er schreibt im Aphorismus 12 der Götzendämmerung (1888) – die fraglichen Engländer sind natürlich Mill und Bentham –:
[51]
Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? -- Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer tut das.
III.4 Was ist Naturalismus? – Begriffsklärungen
[53]
Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Früher wäre mir da etwas ganz anderes eingefallen. Damit ist es jetzt genug. Der Regen, der gegen die Fenster stürzt. Das reicht. Ich hatte übrigens gerade noch einen anderen Ausdruck auf der Zunge, er war nicht nur besser, er war genauer, aber ich habe ihn vergessen, während der Regen gegen das Fenster stürzte oder das tat, was ich im Begriff war, zu vergessen. Ich bin nicht sehr neugierig, was mir beim nächsten Regen einfallen wird, beim nächstsanfteren, nächstheftigeren, aber ich vermute, dass mir eine Wendung für alle Regensorten reichen wird.
Schlechte Wörter, Ilse Aichinger
[54] In der (analytischen) ethischen Diskussion der Gegenwart haben sich einige Bezeichnungen durchgesetzt, die relativ einheitlich verwendet werden. Das gilt für die bereits eingeführten Begriffe „kognitivistisch“ und „nonkognitivistisch“; das gilt des weiteren für die Begriffe „naturalistisch“ und „intuitionistisch“. Gemeinhin werden diese zwei Begriffe dazu benutzt, die Gruppe der kognitivistischen Theorien weiter zu untergliedern; umstritten ist, ob das dann alle sind, oder anders ausgedrückt, ob jede kognitivistische Theorie entweder das eine oder das andere sein muss. Die beiden Begriffe bezeichnen den epistemischen Zugang, den eine Theorie zu Werturteilen voraussetzt; das heißt: sie handeln davon, wie eine Moraltheorie meint, dass man zu Werturteilen kommt.
[55] Wie geschieht das? Ein Utilitarist, das fordert seine Theorie, kommt zu seinen Urteilen über Handlungen, indem er ihre Folgen betrachtet. Er wägt ab, ob die erwartbaren Folgen einer Handlungsweise die Gesamtsumme des Glücks in der Welt mehr vergrößern als seine Handlungsalternativen. Eine Handlungsweise, die das leistet, kann er „gut“ nennen oder „moralisch geboten“. Er kann jetzt den normativ gebrauchten Begriff „gut“ in einen beschreibenden Ausdruck übersetzen. „Diese Handlung ist gut“ heißt für ihn so viel wie: „Diese Handlungsweise vergrößert die Glücksmenge in der Welt mehr als meine anderen Handlungsmöglichkeiten.“ Solche Übersetzungsmanöver habe ich auch im vorigen Kapitel vorgeführt. Der Übersetzungsversuch des Utilitaristen hat ein bisschen was für sich, misst man ihn an Stevensons drei Bedingungen für eine relevante Bedeutung von 'gut' (siehe Kapitel II): 1. Man muss vernünftigerweise darüber uneins sein können, was gut ist; 2. 'gut' muss eine magnetische Wirkung haben; 3. es darf nicht allein durch Erfahrung zu klären sein, was gut ist.
[56] Das utilitaristische Verständnis von 'gut' genügt den ersten beiden Bedingungen, schließlich kann man darüber streiten, welche Folgen einer Handlung wahrscheinlicher sind (1. Bedingung), und ein Utilitarist wird eine Handlung auch tun, die er für 'gut' hält (2. Bedingung). Was die dritte Bedingung angeht, so träumt der Utilitarist sicher davon, dass nach einer moralischen Entscheidung die positiven Folgen für das Glück der Welt tatsächlich empirisch messbar wären und dass Erfahrungswerte, wie sich das Glück der Leute verändert, wenn auf diese oder jene Weise gehandelt würde, in die Formulierung von Handlungsregeln eingingen. Dass er gegenwärtig keine Möglichkeit hat, derlei empirisch festzustellen, ist doch nur zufällig so. (Wenn er es empirisch feststellen könnte, würde aber auch die erste Bedingung nicht mehr erfüllt, weil die Messung den Streit ersetzen könnte.)
[57] Dass Intuitionisten gegen ein solches Vorgehen etwas haben, hat man oben schon bei Frankenas Kritik gesehen, die ich ausbuchstabiert hatte in die These, dass der Utilitarismus sich nicht mit den moralischen Intuitionen Frankenas vereinbaren lässt. Intuitionisten lehnen allerdings nicht nur den Utilitarismus ab, sondern alle 'naturalistischen' Konzeptionen. Die kann man polemisch als solche Theorien begreifen, die in irgendeiner Weise versuchen, den normativen Gebrauch von „gut“ zu vereinfachen, indem sie Übersetzungen vorschlagen à la „'Gut' im moralischen Sinne bedeutet nichts anderes als …“. Das Hauptgegenargument der Intuitionisten: Die Übersetzungsversuche sind alle falsch, Gutsein ist eine Eigenschaft, die von allen anderen Eigenschaften verschieden ist und sich auch nicht aus einer Menge anderer Eigenschaften zusammensetzen lässt. Unsere moralische Intuition sagt uns, was gut ist: Wir wissen es 'intuitiv', nicht durch Ausrechnen und seltsamen Wortgebrauch. Man muss nur auf seine innere Stimme hören. III.5 Der Intuitionismus (nach George Edward Moore) III.5.1. Der „naturalistische Fehlschluss“ und das „Argument der offenen Frage“
[60]
Ich fordere die abstrakte Verwendung der Kritiker und die Unteilbarkeit aller ihrer Aufsätze über die Veränderlichkeit des Bühnenbildes und die Unzulänglichkeit der menschlichen Erkenntnisse überhaupt.
Ich fordere den Bismarckhering.
An alle Bühnen der Welt, Kurt Schwitters
[61] Auch um den Intuitionismus in typischer Form kennenzulernen, greift man am besten auf einen einflussreichen Klassiker zurück: George Edward Moores Principia Ethica (1903). Das Buch ist seinerzeit rasch populär geworden, und zwar auch deswegen, weil es ein Argument enthält, das lange als Generaleinwand gegen jegliche Form des Naturalismus galt. Was hatte Moore geschrieben?
[62]
'Gut' ist also, sofern wir damit die Eigenschaft meinen, die wir einem Ding zuschreiben, das wir mit 'gut' bezeichnen, im entscheidenden Sinne des Wortes keiner Definition fähig. Der entscheidende Sinn von 'Definition' ist derjenige, wonach eine Definition feststellt, welches die Teile sind, die unveränderlich ein bestimmtes Ganzes bilden, und in diesem Sinne entzieht sich 'gut' jeglicher Definition, da es einfach ist und keine Teile hat. [...] Nehmen Sie zum Beispiel 'gelb'. Wir können versuchen, es durch die Beschreibung seines physikalischen Äquivalents zu definieren; wir können feststellen, was für Lichtschwingungen das normale Auge reizen müssen, damit wir es wahrnehmen. Aber eine kurze Überlegung genügt, um zu zeigen, dass diese Lichtschwingungen selbst nicht das sind, was wir mit 'gelb' meinen. Sie sind es nicht, die wir wahrnehmen [...] Es mag sein, dass alle Dinge, die gut sind, auch etwas anderes sind, so wie alle Dinge, die gelb sind, eine gewisse Art der Lichtschwingung hervorrufen. Und es steht fest, dass die Ethik entdecken will, welches diese anderen Eigenschaften sind, die allen Dingen, die gut sind, zukommen. Aber viel zu viele Philosophen haben gemeint, dass sie, wenn sie diese anderen Eigenschaften nennen, tatsächlichen 'gut' definieren; dass diese Eigenschaften in Wirklichkeit nicht 'andere' seien, sondern absolut und vollständig gleichbedeutend mit Gutheit [goodness]. Diese Ansicht möchte ich den 'naturalistischen Fehlschluss' nennen. (39ff)
[63] Wie sich das auswirkt, wenn Philosophen den naturalistischen Fehlschluss begehen, demonstriert Moore in einer satirischen Szene, in der zwei Naturalisten über die Bedeutung von 'Dreieck' streiten:
[64]
Die Situation ist folgendermaßen. Ein Mann sagt, ein Dreieck ist ein Kreis. Ein anderer erwidert: "Ein Dreieck ist eine gerade Linie, und ich werde Ihnen beweisen, dass ich recht habe, denn" (dies ist das einzige Argument) "eine gerade Linie ist nicht ein Kreis." "Das ist völlig richtig" antwortet vielleicht der andere, "aber trotzdem ist ein Dreieck ein Kreis, und sie haben nicht das geringste gesagt, was das Gegenteil bewiese. Bewiesen ist, dass einer von uns unrecht hat, denn wir sind uns einig, dass ein Dreieck nicht sowohl eine gerade Linie als auch ein Kreis sein kann; wer von uns jedoch unrecht hat, kann durch nichts auf der Welt bewiesen werden, weil sie das Dreieck als gerade Linie und ich es als Kreis definiere". (41f)
[65] Ob Philosophen behaupten, sie gäben eine brauchbare Definition von „gut“ oder sie übersetzten lediglich den Gebrauch, der täglich im Schwange ist, ist Moore egal: „Meine Herren, wir wollen von Ihnen als Morallehrern nicht wissen, wie die Leute ein Wort gebrauchen; nicht einmal, was für Handlungen sie gutheißen, die der Gebrauch des Wortes 'gut' gewiss umfassen mag; - wir wollen bloß wissen, was gut ist“ (42f).
[66] Gegen den naturalistischen Fehlschluss wendet Moore sich mit dem „Argument der offenen Frage“:
Wenn z.B. alles, was 'gut' genannt wird, lustvoll zu sein scheint, stellt der Satz 'Lust ist das Gute' nicht eine Verknüpfung zwischen zwei verschiedenen Begriffen her, sondern enthält nur einen, nämlich den der Lust, welcher leicht als etwas für sich Bestehendes zu erkennen ist. Wer jedoch sorgsam prüft, was er sich vorstellt, wenn er fragt 'Ist Lust (oder was immer es sein mag) letzten Endes gut?' wird sich leicht vergewissern, dass er sich nicht bloß fragt, ob Lust lustvoll ist. (48)
[67] Die Frage, ob Lust gut ist, kann immer noch sinnvoll gestellt werden, sie bleibt offen. Das darf man nicht so verstehen – wie früher aber in der Literatur vorgeschlagen worden ist –, dass Moore meint, 'gut' sei ein normativ gebrauchtes Wort, das nicht durch ein rein beschreibend gebrauchtes Wort ersetzt werden könnte. Zwar verhält sich das in der Tat so, aber auch wenn 'gut' ein rein beschreibendes Wort wäre, „so würde dadurch weder die Eigenart des Fehlschlusses geändert, noch seine Bedeutung im geringsten geschmälert“ (44f).
[68] Ich verdeutliche sein Argument der offenen Frage an einem andere Beispiel, bei nicht moralisch gebrauchten Begriffen. Moore interpretiert die Naturalisten so, dass nach ihrer Auffassung zwischen 'gut' und der jeweils vorgeschlagenen Bedeutung eine analytische Beziehung besteht, wie zwischen dem Subjekt und dem Prädikat des schon aus dem ersten Kapitel bekannten Beispielsatzes „Ein Schimmel ist ein weißes Pferd“. Die Frage „Ist ein Schimmel ein weißes Pferd?“ bringt alle die, die wissen, was 'Schimmel' bedeutet, nicht weiter. Denn sie bedeutet ja so viel wie „Ist ein weißes Pferd ein weißes Pferd?“ Dass es für den, der das Wort 'Schimmel' nicht kennt, sinnvoll ist, die Wortbedeutung zu erfragen, steht auf einem anderen Blatt.
[69] Mit 'gut' nun verhält es sich anders, meint Moore. Selbst wenn „gut“ definiert würde: „hat die Eigenschaftsmenge {a,b,c…}“ - die Schwierigkeiten lägen dann nur noch darin, herauszufinden, welche Eigenschaften es genau sind -, ist die Frage „Ich weiß, das X die Eigenschaftsmenge {a,b,c…} hat, aber ist X wirklich gut?“ eine sinnvolle, offene Frage. Die definierte Bedeutung und unser Verständnis von 'gut' weichen voneinander ab. Daher können „gut“ und „hat die Eigenschaftsmenge {a,b,c…}“ nicht gleichbedeutend sein.
[70] Soweit Moore; zusammenfassen lässt sich das mit: 'gut' ist undefinierbar. Die Bezeichnung „Fehlschluss“ für die karikierte Argumentation der Naturalisten ist übrigens nicht korrekt. Man sieht das sofort, wenn man den Gedankengang etwas übersichtlicher darstellt: Es seien P1 und P2 die Prämissen und C die Konklusion.
(P1) Du solltest das Gute tun, wenn du moralisch handeln willst. (P2) Das Gute ist die Beförderung des größten Glücks. (C) Du solltest das größte Glück befördern, wenn du moralisch handeln willst.
[71] Der Schluss des Naturalisten ist logisch einwandfrei. Die Konklusion lässt sich aus den Prämissen ableiten. Das Mooresche Argument gilt der Prämisse P2 und bestreitet deren Wahrheit. Es ist eher ein „naturalistischer Definitionsfehler“, den Moore aufzuzeigen versucht.
[72] Was leistet also sein Argument? Es zeigt auf, dass ein Versuch scheitert, die Bedeutung von 'gut' so zu bestimmen, dass sie unserem Sprachgebrauch entspricht. In der neueren Literatur findet sich gegen das Mooresche Argument der Einwand, es begehe eine petitio principii: es setze die Undefinierbarkeit von 'gut' voraus, die es doch beweisen wolle; das meint etwa Frankena in seinem Aufsatz Der naturalistische Fehlschluss (S. 94). Die Überlegung dahinter ist: Warum sollte es nicht gelingen, eine Eigenschaftsmenge von X anzugeben, für die die Frage „… aber ist X gut?“ nicht mehr offen ist? Moore hat schließlich nicht jede ausprobiert; er ist einfach davon überzeugt, dass es nicht gelingt. Das genügt aber nicht. Zudem scheint mit dem Argument der offenen Frage nicht viel gewonnen: Das Argument zeigt schließlich nicht, dass die moralisch relevanten Aspekte von 'gut' sich nicht doch in anderen Worten beschreiben ließen. Naturalistische Theorien trachten ja danach, die moralisch relevanten Aspekte von den anderen zu trennen; das kommt mir nicht nur legitim, sondern sogar hilfreich vor.
[74]
Ein Mensch, von bangen Zweifeln voll, Ist unentschlossen, was er soll. Ha, denkt er da in seinem Grimme: Wozu hab ich die innre Stimme? Er lauscht gespannten Angesichts -- Jedoch, er hört und hört halt nichts. [...]
Das Gewissen, Eugen Roth
Die Intuitionisten haben eine eigene Vorstellung davon, wie man zu Werturteilen kommt. Werturteile sind von Werten abhängig, und die sind nicht auf anderes reduzierbar oder in anderes übersetzbar. Werte, erläutert Moore, können in zweierlei Hinsicht für das Handeln wichtig werden: 1. weil die beabsichtigte Handlung an sich 'gut' ist, 2. weil die beabsichtigte Handlung ein notwendiger Schritt auf dem Wen zu einem guten Ziel ist. Die ersten Handlungen nennt Moore mit einem bereits eingebürgerten Wort „intrinsisch“ gut, das heißt so viel wie: „aus sich selbst heraus“ oder „an sich“ gut. Die zweiten Handlungen wären mittelbar gut, weil sie etwas intrinisch Gutes zur Folge haben.
Zwei Probleme tauchen hier auf. Die eine hat Moores Überlegung mit dem Utilitarismus gemein: wie lässt sich vorhersagen, ob eine Handlung tatsächlich ein intrinsisches Gut zur Folge haben wird? Da wird man so großzügig sein müssen wie beim Utilitarismus und zugestehen, dass hier Wahrscheinlichkeiten und Erwartungen hinreichen. Das zweite: Woran erkennt man das intrinsisch Gute? Moore hat darauf eine einfache Antwort: Die „Grundprinzipien der Ethik“ - und damit: Was 'gut' und was 'schlecht' ist - sind „in sich evident“, ja sie „müssen“ es sein. Moore erläutert:
Aber ich möchte nicht, dass dieser Ausdruck missverstanden wird. Der Ausdruck 'in sich evident' bedeutet, recht verstanden, dass das so bezeichnete Urteil allein durch sich selbst evident oder wahr ist; dass es keine Ableitung von einem anderen Urteil außer ihm selbst ist. Der Ausdruck bedeutet nicht, dass das Urteil deshalb wahr ist, weil es dir oder mir oder der ganzen Menschheit einleuchtet, weil es uns, anders ausgedrückt, wahr erscheint. Dass ein Urteil wahr erscheint, kann niemals ein triftiges Argument dafür sein, dass es wirklich wahr ist. Wenn wir sagen, ein Urteil ist in sich evident, dann meinen wir gerade, der Umstand, dass es uns wahr erscheint, sei nicht der Grund, warum es wahr ist; denn wir meinen, dass es absolut keinen Grund hat. (205) So viel deutlicher ist diese Erläuterung allerdings nicht, denke ich. „evident oder wahr“ schreibt Moore, als sei das eins. Und das ist es für ihn auch, wenn man annimmt, dass nur das Wahre evident sein kann. Kann man sich in seinem moralischen Urteil irren? Kann es sein, dass einem etwas als evident erscheint, was aber gar nicht evident ist?
Die Antwort ist: Nein. „Evident“ heißt, laut Fremdwörterduden, so viel wie „offenkundig“, „klar ersichtlich“ (im englischen Original wird das gleiche Fremdwort gebraucht). Wer lateinisch kann, erkennt das Verb 'videre', 'sehen', im Wortstamm. Das Herkunftswörterbuch belehrt, das Wort sei im 17./18. Jahrhundert aus lateinisch 'e-videns', 'er-sichtlich' entlehnt. Das Wort meint etwas, das klar ist, weil es deutlich zu sehen ist. Wenn man sich vor Augen hält, dass Moore 'gut' am Beispiel von 'gelb' erläutert, dann muss man sich wohl die „Evidenz“ von 'gut' wie die von 'gelb' vorstellen. „Ist die Wand gelb?“ - Antwort: „Das sieht man doch.“
Das Beispiel verdeutlicht aber auch, dass hier „als wahr erscheinen“ und „wahr sein“ zusammenfallen: Wenn etwas 'als wahr erscheint', ist es offenkundig, also 'evident' im Mooreschen Sinne, also wahr. Deshalb hat Moore zwar recht, dass man im allgemeinen nicht aus der Tatsache, dass einem etwas als wahr erscheint, darauf schließen darf, dass es wahr ist – aber es müsste doch im Spezialfall seiner Evidenztheorie unbedingt erklärt werden, wie hier etwas als wahr bzw. gut erscheinen könnte, was nicht wahr bzw. gut ist. Es müsste erklärt werden, wie man sich in seinem moralischen Urteil irren kann.
Das ist sicher eine große Schwierigkeit in Moores Intuitionismus. Die andere Schwierigkeit ergibt sich aus dem, was dann als intrinsisch 'gut' erkannt wird. Auch dazu hat Moore nämlich eine Theorie. Er leitet das 'intrinsisch Gute' von dem „bei weitem wertvollsten“ ab, was er kennt und sich vorstellen kann (258), nämlich „gewisse Bewusstseinszustände, die sich summarisch umschreiben lassen als die Freuden [pleasures] menschlichen Umgangs und das Genießen schöner Gegenstände“ (260). „Schöne Gegenstände“ gibt es übrigens wie Sand am Meer (vgl. 304), und die schönen Gefühle, die ihr Genuss erzeugt, sind durchaus voneinander verschieden – aber alle gut.
Damit ist die Theorie einen Schritt weiter. Zusammen mit der Überlegung, dass Handlungen selbst intrinsisch gut sein oder auf ein intrinsisch Gutes abzielen können, steht damit eine Theorie der moralischen Handlungen. Moore schreibt ganz deutlich: „alle moralischen Gesetze sind bloß Feststellungen, dass gewisse Handlungen gute Wirkungen zeitigen.“ Es ergibt sich, dass „keine Handlung richtig sein kann, die nicht durch ihre Folgen gerechtfertigt wird“ (209f). Da ist fast kein Unterschied zum Utilitarismus mehr! Genau besehen besteht der Unterschied nur mehr darin, dass Moore eine starke These darüber vertritt, was 'Glück' (=„Freuden“) auslöst, während der Utilitarismus dies offen lässt. An der Vermehrung der Freuden sind aber beide Theorien interessiert.
Problematisch ist allerdings, dass das, was „Freuden“ spendet, so vielfältig ist. So ist es nämlich denkbar, dass Fälle vorkommen, in denen ein Handelnder die Wahl hat, ob er mit seiner Handlung eher dieses oder jenes intrinsische Gut befördern sollte, diesen oder jenen 'schönen Gegenstand' fördern sollte. Wie in so einem Fall verschiedene intrinsische Güter zu gewichten oder gegeneinander abzuwägen wären, sagt Moore nicht. Damit taugt die Theorie nicht in ethischen Zweifelsfällen – und Zweifelsfälle sind gerade die entscheidenden, in denen man eine Theorie nötig hat, weil der gesunde Menschenverstand nicht genügt.
Ein weiterer Einwand gegen Moores Intuitionismus hat ein ganzes Jahrhundert Entwicklung psychologischer und pädagogischer Theorien hinter sich. Wer sich heute aufmerksam dabei beobachtet, wie seine moralische Intuitionen im Vergleich zu denen seiner Mitmenschen aussehen, der wird häufig die Beobachtung machen, dass da eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Das hat, natürlich, mit einem bestimmten geteilten kulturellen Umfeld, mit einer ähnlichen Erziehung, mit ähnlichen Erlebnissen zu tun. Man kann das auf die Formel bringen: Es gibt keine 'unschuldige' moralische Intuition, es gibt keine, die nicht schon vorgeprägt wäre. Und wenn dies richtig ist, dann stimmt es nicht, dass Menschen einfach qua Menschsein das intrinsisch Gute wahrnehmen. Sie haben keinen zusätzlichen moralischen Sinn, der sie Werte erkennen lässt wie Farben. Sondern sie halten einfach das für intrinsisch gut, was sie als solches vermittelt bekommen haben, zuweilen mit Ergänzungen aus der eigenen Lebensgeschichte. Eine so geformte Intuition taugt kaum als Grundlage für eine ethische Theorie, weil sie 1. eine Tendenz zum Bewahren (der erlernten Werte) hat, statt offen für neue Fragen zu sein, 2. weil die Intuitionen verschiedener Menschen mehr oder weniger stark voneinander abweichen können: dann ist im Konfliktfall eine Entscheidung unmöglich. Der Intuitionismus löst auf fragwürdigste Weise das Letztbegründungsproblem, das sich allen Ethikentwürfen stellt.
[…]
Die Bösen werden geschlachtet
die Welt wird gut
Maßnahmen, Erich Fried
Am Intuitionismus ist die Schwierigkeit wertpluralistischer Konzeptionen deutlich geworden. Wenn mehrere Werte oder Güter oder Prinzipien nebeneinander stehen, von denen keiner bzw. keines den anderen übergeordnet ist, wird er Umgang mit Konflikten schwierig. Die Entscheidung zwischen ihnen müsste letztlich durch Güterabwägung fallen, die intuitiv erfolgen könnte, oder, falls die Intuition uns im Stich ließe, durch einen regelgeleiteten Entscheidungsprozess. Das ist sicher nicht im Sinne der Erfinder einer solchen Konzeption. Ein geschlossenes System moralischer Normen muß daher danach streben, wertmonistisch (auf nur eines oder ein höchstes Gut gegründet) zu sein. Ethikkonzeptionen werden gerade dazu entworfen, in moralischen Zweifelsfällen Rat zu geben - eine wertpluralistische Konzeption verfehlt darum ihr Ziel auf groteske Weise: Statt Konflikte lösen zu helfen, bietet sie neue an.
John Stuart Mill: Der Utilitarismus. - Stuttgart : Reclam 1976. Zuerst erschienen unter dem Titel „Utilitarianism“ als Artikelserie 1861 im Frazer's Magazine.
George Edward Moore: Principia Ethica. - Stuttgart : Reclam, 1984. Engl. OA 1903 unter dem gleichen Titel.
Robert Nozick: Anarchy, State and Utopia, 1974. Deutsch: Anarchie, Staat, Utopia. - München : mvg, 1975. Das Gedankenexperiment von der „Erlebnismaschine“ steht dort auf den Seiten 52-54.
Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zuerst 1785. Kant schreibt dort über die Frage, ob das Streben nach Glück als Grundlage zu einer Theorie der Moral taugt:
Allein es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: daß alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d.i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, daß gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganze, ein Maximum des Wohlbefindens in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist. Nun ist's unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriffe von dem mache, was er [der Mensch] hier eigentlich wolle. Will er Reichtum, wieviel Sorge, Neid und Nachstellungen könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen! (GMS 38f/ 418)
William Frankena: Analytische Ethik : eine Einführung. - München : dtv, (2)1975. Zuerst erschienen unter dem Titel „Ethics“, Englewood Cliffs / NJ : Prentice Hall, 1963. Das Buch ist heute noch lesenswert: gut geschrieben und gegliedert – aber leider vergriffen.
Günther Patzig: Ethik ohne Metaphysik. - 2. durchges. und erw. Aufl. - Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 1983.
Wer noch mehr über die Standardkritik am Utilitarismus lesen möchte, greift am besten zu den Büchern von Bernard Williams, z.B. das mit J. C. Smart zusammen verfasste Utilitarianism : for and against.
Oder zu Julian Nida-Rümelins ausführlicher Kritik des Konsequentialismus (2. Aufl. - München : Oldenburg, 1995), das auch in deutscher Übersetzung Elizabeth Anscombes Aufsatz Modern moral philosophy enthält. Dort wird der Begriff „Konsequentialismus“ zum ersten Mal gebraucht.