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themen:ethikeinfuehrung:kap_04

VI Objektivismus und Subjektivismus

IV.1 Was ist Objektivismus?

CAMILLE Was soll das hier? das versteht sich von selbst.
DANTON Oh, es versteht sich Alles von selbst. Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen?
PHILIPPEAU Wir und die ehrlichen Leute.

Dantons Tod, Georg Büchner


Die Begriffe „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ sind mit Vorsicht zu genießen, da gerade sie in der ethischen Diskussion häufig benutzt werden, ohne daß man sich über ihre Bedeutung hinreichend einig wäre. Beispielsweise wird manchmal unter „Subjektivismus“ eine Form des ethischen Egoismus verstanden (zum Egoismus vgl. IX.1) – in diesem Sinne wäre „Subjektivismus“ der Name für eine normativ-ethische Theorie.

Hier wird „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ im metaethischen Sinne gebraucht; die Begriffe beschreiben den Status moralischer Äußerungen.

Objektivistische Theorien gehen von dem Sachverhalt aus, daß normative Tatsachen objektiv sind, d.h. sie sind unabhängig von unseren Wünschen und Interessen. In diesem Sinne ist der Intuitionismus eine objektivistische Theorie, da uns die Intuitionen Auskunft geben, was gut, wertvoll oder richtig ist – das Gutsein haftet den Dingen oder Handlungen an, es ist keine vom Betrachter gemachte Beschreibung.1)

Der Subjektivismus besagt, daß „gut“ und „richtig“ im moralischen Sinne von persönlichen Vorlieben (Präferenzen) abhängig sind.2) Das schließt nicht aus, daß es Dinge oder Handlungen gibt, die für alle gut sind, aber sie sind dies nicht an sich. Ein Subjektivist würde einen Objektivisten sinnvoll fragen können, für wen eine Handlung gut ist – der Objektivist müßte es aber bei der Feststellung belassen, daß sie gut ist.

IV.2 Relativität und Absonderlichkeit

Ist in dieser unklaren Welt schon schwer genug zu begreifen, warum die Menschen überhaupt da sind, geschweige denn, warum sie immer noch mehr machen.

Engel, Kif und neue Länder, Jack Kerouac


Es gibt zwei prominente Argumente gegen den Objektivismus, die John Leslie MACKIE prägnant formuliert hat. Es sind diese das „Argument aus der Relativität“ (argument from relativity) und das „Argument aus der Absonderlichkeit“ (argument from ontological queerness).3)

„Das Argument aus der Relativität nimmt seinen Ausgang von der allgemein bekannten Tatsache der Verschiedenheit moralischer Regelsysteme sowohl von Gesellschaft zu Gesellschaft als auch von einer Epoche zu einer anderen, schließlich noch von der Tatsache unterschiedlicher moralischer Überzeugungen der verschiedenen Gruppen und Klassen innerhalb ein und derselben Gesellschaft. Diese Verschiedenheit als solche ist ein bloßes Datum ('Gegebenes') der deskriptiven Ethik, eine anthropologische Tatsache, die weder ethische Auffassungen erster noch solche zweiter Ordnung einschließt. Dennoch ist sie geeignet, einen Subjektivismus zweiter Ordnung indirekt argumentativ abzusichern: Die Tatsache grundlegender Unterschiede hinsichtlich sittlicher Überzeugungen erster Ordnung macht es schwierig, solche Einsichten als Einsichten in objektive Wahrheiten zu deuten. (…) Unterschiedliche moralische Überzeugungen scheinen sich aus unterschiedlichen Formen der Lebensgestaltung zu ergeben. Die ursächliche Verknüpfung scheint gewöhnlich folgender Art zu sein: Man ist von der sittlichen Angemessenheit der Monogamie überzeugt, weil man in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Gepflogenheiten der Monogamie lebt; man lebt nicht in der Monogamie, weil man von ihrer Angemessenheit überzeugt ist. (…) Kurz, das Argument aus der Relativität gewinnt eine gewisse Plausibilität einfach aus der Tatsache, daß sich die unbestreitbaren Unterschiede in den moralischen Regelsystemen leichter mit Hilfe der Hypothese, in ihnen spiegelten sich die unterschiedlichen moralischen Lebensweisen, erklären lassen als mit Hilfe der Hypothese, in ihnen drückten sich die verschiedenen, meist unzulänglichen und mißlungenen Versuche, objektive Werte zu erfassen, aus (40ff).

Dagegen steht ein beliebtes Argument, in dieser Form vorgetragen von Günter PATZIG 4):

„Nun muß man freilich nicht meinen, daß die objektive Situation, etwa die geographischen, klimatischen und ökonomischen Gegebenheiten, selbst und als solche der entscheidende Faktor der Modifikation wäre. Tatsächlich sind für einen moralischen Kodex stets nur die bewußt aufgefaßten Elemente dieser Situation wirksam, die zusammen mit anderen möglichen Vorstellungen, Meinungen und Traditionen das Verhalten des einzelnen bestimmen. Es gibt z.B. bei mehreren Stämmen die Vorschrift, daß erwachsene Kinder ihre Eltern, wenn diese alt und schwach werden, töten sollen. Bei den Eskimos hat dieses Verfahren eine rationale und in der tatsächlichen Situation gelegene Begründung, daß nämlich unter den harten Bedingungen des Existenzkampfes in den Gegenden, die von den Eskimos bewohnt werden, der Untergang eines altersschwachen Individuums qualvoll sein muß, verglichen mit einem schnellen Tod, den diejenigen herbeiführen, denen am meisten an einem schmerzlosen Abschluß des Lebens ihrer Eltern gelegen sein wird. Bei anderen Stämmen, z.B. den Tschuktschen, liegt demselben Verhalten nicht mehr eine unabweisbare Besonderheit der Umwelt zugrunde, sondern es sind gewisse religiöse Vorstellungen wirksam, z.B. die, daß jedermann im Totenreich in dem Zustand fortleben werde, in dem er aus dem Leben abgeschieden ist. Auch hier besteht eine Pflicht der Kinder, dafür zu sorgen, daß ihre Eltern nicht krank und schwach sterben, was oft nur durch einen gewaltsamen Tod zu erreichen sein wird. Die Verhaltensweisen wirken in beiden Fällen auf uns abschreckend und fremd; jedoch liegt beide Male das moralische Prinzip zugrunde, daß Kinder ihren Eltern Gutes erweisen sollen und verpflichtet sind, sie vor Leid und Elend zu bewahren, soweit sie dazu imstande sind. Wir sehen also, daß hier ein moralisches Prinzip, das auch bei uns gilt, zu ganz abweichenden konkreten Regeln führt“ (80f).

Der Einwand klingt auf den ersten Blick überzeugend. Doch muß sich der solcherart Einwendende fragen lassen, ob denn den konkreten Handlungen keine objektiven Bewertungen zukommen und wenn, in welcher Weise diese mit der Bewertung der allgemeinen Regel verknüpft sind. Läßt sich denn von objektivistischer Seite kein Argument gegen das Töten der Eltern ins Feld führen (nur weil es einer guten allgemeinen Regel entspricht)?

Wie auch immer dieser Streit entschieden werden mag - es bleibt MACKIEs Argument aus der Absonderlichkeit:

„Gäbe es objektive Werte, dann müßte es sich dabei um Wesenheiten, Qualitäten oder Beziehungen von sehr seltsamer Art handeln, die von allen anderen Dingen in der Welt verschieden wären. Und entsprechend müßte gelten: Wenn wir uns ihrer vergewissern könnten, müßten wir ein besonderes moralisches Erkenntnis- oder Einsichtsvermögen besitzen, das sich von allen anderen uns geläufigen Erkenntnisweisen unterschiede“ (43f). „Platons Formen liefern ein dramatisches Bild von dem, was objektive Werte darstellen müßten. Die Form des Guten ist von der Art, daß ihre Erkenntnis dem Erkennenden sowohl die Handlungsrichtung anzeigt als ihn auch mit einem durchschlagenden Handlungsmotiv versieht; die Tatsache, daß etwas gut ist, sagt demjenigen, der dies erkennt, was er zu tun hat, und zugleich bringt sie ihn dazu, es zu tun. Ein objektiver Wert würde von jedem, der ihn erkennt, angestrebt, und zwar nicht aufgrund irgendeiner kontingenten [zufälligen] Tatsache, daß dieser Mensch (oder alle Menschen) gerade so beschaffen ist, daß er eben dies wünscht, sondern aufgrund einer diesem Wert innewohnenden Würdigkeit, realisiert zu werden. Und wenn es objektive Prinzipien für Richtig und Falsch gäbe, dann wäre jede (mögliche) falsche Verhaltensweise in sich wert, unterlassen zu werden. […] Eine Situation würde die Forderung zu dieser oder jener Verhaltensweise in sich enthalten“ (46). „Es genügt keineswegs, ein Vermögen anzunehmen, mit dem man die moralische Falschheit erkennen kann; man muß eine Fähigkeit voraussetzen, mit der wir zugleich sowohl die natürlichen Eigenschaften […] ausmachen, als auch die sittliche Falschheit, als auch die geheimnisvolle Beziehung zwischen diesen beiden Arten von Eigenschaften erkennen. Oder die geforderte moralische Einsicht müßte darin bestehen, daß die sittliche Falschheit als eine übergeordnete Qualität erkannt wird, die bestimmten natürlichen Eigenschaften zukommt. Doch was genau ist mit einem solchen 'Zukommen' von sittlichen Qualitäten in bezug auf Qualitäten anderer Art gemeint, und auf welche Weise wird es erkannt? Wieviel einfacher und verständlicher wird doch die ganze Angelegenheit, sobald wir die sogenannte moralische Qualität durch irgendeine Art von subjektiver Antwort ersetzen, die ursächlich durchaus mit dem Erfassen bestimmter natürlicher Eigentümlichkeiten, auf denen die angenommene sittliche Qualität aufruhen soll, verknüpft sein könnte!“ (48).

Aus der Erkenntnis der geringen Überzeugungskraft eines metaethischen Objektivismus, aus der gleichzeitigen Einsicht, daß unsere moralischen Begriffe wie „sollen“ oder „gut“ im allgemeinen gebraucht werden, als verträten sie objektive Werte, entwickelt MACKIE5) die „Irrtumstheorie“ (error theory) der Moralsprache: „Die (sprachliche) Objektivierung sittlicher Werte läßt sich auch so erklären, daß es sich bei der Moral um ein Regelsystem handelt, dessen Gesetzgeber man entfernt hat. Es mag abgeleitet sein aus dem positiven staatlichen Recht oder aus einem angenommenen Systems göttlichen Rechts. Zweifellos lassen sich manche Elemente der moralischen Sprache im modernen Europa auf eine theologische Konzeption der Moral zurückführen. Die Betonung quasi-imperativischer Begriffe, des Richtigen als des Gesollten oder des Falschen als des Verbotenen ist sicherlich ein Überbleibsel aus dem Verständnis sittlicher Normen als göttlicher Gebote“ (53).

Die Irrtumstheorie der Moralsprache ist eine Erklärung für den Gebrauch objektivierender moralischer Wendungen - sie ist kein Verbot, weiter solche Wendungen zu benutzen. Letztlich ist die Antwort auf die Frage, wie Sprache entstanden ist, selten von Einfluß darauf, wie sie benutzt wird. Sie bestimmt auch nicht, wie Sprache benutzt werden sollte (wenn sich das überhaupt sagen läßt). Die Irrtumstheorie hat keinen argumentativen Wert.

Das Argument aus der Absonderlichkeit ist ohnehin überzeugend nur für eine objektivistische Theorie, die die empirische Erkennenbarkeit objektiver Werte behauptet. Das tut z.B. der Intuitionismus. Daneben sind natürlich andere Theorien denkbar. Ein berühmtes Beispiel ist der von KANT vertretene Objektivismus: Die Erkenntnis des Guten ergibt sich aus a priori geltenden Sätzen. (Vgl. V.)

IV.3 Was ist Deontologismus? - Begriffsklärungen

- Gej iber werter wi iber a minenfeld: ejn falscher trot, ejn falsche bawegung, un ale werter, wos du host ojsgetsiljet a gants lebn ojs dejne odern, weln tseflikt, wen mit dir tsuzamen - azoj hot tsu mir gescheptschet majn lajplecher schotn, wen mir bejde, geblendt fun reflektorn-wintmiln, hobn getsojgn baj nacht iber a blutikn minenfeld …

Griner akwarium (2), Abraham Sutzkever


Wir sind fast am Ende der Einführung angelangt, aber einige Begriffe, die in der ethischen Diskussion eine Rolle spielen, sind noch nicht aufgetaucht. Mit gutem Grund, natürlich: Sie sind zwar nicht in so verschiedener Verwendung im Schwange wie etwa „Subjektivismus“; ihr Gebrauch ist aber nichtsdestoweniger fragwürdig.

Da wäre die Begriffstrias „intentionalistisch“, „deontologisch“, „teleologisch“. Sie wird häufig zur Beschreibung normativ-ethischer Theorien gebraucht.

„Intentionalistisch“ wird eine Theorie genannt, die den moralischen Wert einer Handlung an der Handlungsabsicht (Intention) mißt.

„Deontologisch“ wird eine Theorie genannt, die den moralischen Wert einer Handlung daraus bestimmt, ob die Handlung einer bereits als richtig erkannten oder angenommenen Regel folgt. Man hat auch gesagt: Der Deontologismus leitet das Gute aus dem Rechten ab. Das Wort ist gebildet mit dem griechischen Wort für „Pflicht“.

„Teleologisch“ wird eine Theorie genannt, die den moralischen Wert einer Handlung nach ihren Folgen bemißt. Der Teleologismus leitet das Rechte aus dem Guten ab. Das Wort ist gebildet mit dem griechischen Wort für „Zweck“, „Ziel“. - In neueren Abhandlungen findet sich auch der Begriff „konsequentialistisch“. Er wird verwendet, um anzudeuten, daß das Rechte auch aus dem außermoralisch Guten abgeleitet werden könne. „Teleologisch“ wurden Theorien genannt, die sich zum Ziel setzten, das richtige Handeln durch das moralisch Gute zu bestimmen.

Die Zuordnungen von Theorien zu diesen Begriffen ist mehr als fragwürdig. KANTs Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ließe sich – je nach Betrachtung – in jede dieser Theorien einordnen. „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ – so der erste Satz des ersten Kapitels der 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' (GMS 10/393). Demnach zählt der Wille zur Beurteilung des moralischen Wertes. „Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft)“ (GMS 33/413). Demnach gibt die Vernunft Gebote – die Einordnung der KANTschen Ethik als „Pflichtethik“ ist die am meisten verbreitete (darum ist KANT auch so unbeliebt). „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS 42/421) – so die erste Formulierung des Kategorischen Imperativs. Das Kriterium für die Wahl einer Maxime ist, ob du wollen kannst, daß sie allgemeines Gesetz werde – da kein weiteres Kriterium angegeben ist, müssen wohl die vorgestellten Folgen der Wahl das Kriterium sein (KANTs Beispiele legen diese Interpretation nahe).

Ich denke, daß eine normativ-ethische Theorie von allem etwas enthält: Eine Theorie, die ausschließlich die Absicht beurteilt, mit der eine Handlung zustandegekommen ist, ist kaum geeignet, Konsens zu finden: Die Idee der Verantwortung, die ich für grundlegend halte, würde völlig ad absurdum geführt.

Eine Theorie, die nur beurteilt, inwieweit eine Handlung einer Regel entspricht oder einer Verpflichtung folgt, müßte ein Kriterium für die Richtigkeit der Regel angeben können, oder sie wäre unbefriedigend.6)

Eine Theorie, die nur beurteilt, ob die Folgen einer Handlung gut sind, sieht sich dem Dilemma gegenüber, daß sie eine Handlung erst nach Ausführung beurteilen kann, also keine Entscheidungshilfe ist bei der Frage, ob die anstehende Handlung gut oder richtig ist.

IV.4 Vorläufiges Fazit

Einige grundlegende Denkmodelle der Analytischen Ethik wurden vorgestellt und Möglichkeiten philosophischer Argumentationen. Im Ganzen waren die Überlegungen davon bestimmt, zu zeigen, was alles nicht geht - aber Philosophen haben Jahrtausende damit zugebracht, einander zu widerlegen. Die ungefähre Kenntnis systematischer Zusammenhänge ermöglicht nun ein etwas entspannteres Weiterforschen und die Begegnung mit einigen originellen Ideen der Praktischen Philosophie.

Weiter mit Kapitel 5.

1)
KUTSCHERA definiert Objektivismus formal so: „Zwischen rein normativen Sätzen und Sätzen über subjektive Präferenzen bestehen keine analytischen Beziehungen“ (S. 182).
2)
KUTSCHERA definiert Subjektivismus formal so: „Alle rein normativen Aussagen lassen sich in Aussagen über normative Präferenzen übersetzen“ (107).
3)
John Leslie MACKIE, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und dem Falschen. Zuerst 1977 erschienen unter dem Titel „Ethics. Inventing Right and Wrong“.
4)
Relativismus und Objektivität moralischer Normen, zuerst als Vortrag in Bremen 1968 gehalten. Veränderter Abdruck in: ders., Ethik ohne Metaphysik.
5)
in Anlehnung an ANSCOMBE 1958
6)
Diese Kritik trifft vor allem theonome Ethiken. Vgl. dazu IX. Zu den Schwierigkeiten einer rein teleologischen Ethik vgl. III.1
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