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VII HAREs Universeller Präskriptivismus

VII.1 Das Zwei-Ebenen-Modell Kritischen Denkens

Ford had his own code of ethics. It wasn't much of one, but it was his and he stuck by it, more or less. One rule he made was never to buy his own drinks. He wasn't sure if that counted as an ethic, but you have to go with what you've got. He was also firmly and utterly opposed to all and any forms of cruelty to any animals whatsoever except geese. And furthermore he would never steal from his employers.
Well, not exactly steal.

Mostly harmless, Douglas Adams



„Keiner, der in seinem praktischen Denken von der moralischen Sprache tatsächlich Gebrauch macht, wird sich mit dem bloßen Fallenlassen des Paradoxons zufriedengeben, wonach wir uns für Handlungen schuldig fühlen können, von denen wir glauben, daß wir sie tun sollten. Es würde reichen zu sagen: 'Es gibt eben Situationen, in denen man, was auch immer man tut, etwas tut, was man nicht tun sollte, d.h. verkehrt handelt'. Es gibt, das ist richtig, einige Leute, die es goutieren [genießen], daß es von ihnen so genannte 'tragische Situationen' gibt; ohne sie wäre die Welt für uns andere um einige Freuden ärmer: Das Schreiben und Lesen von Romanen sowie das Anschauen von Filmen, in denen solche Situationen eine beliebte Ingredienz darstellen, würden uns viel weniger Spaß machen. Das Problem ist, daß, falls man ethischer Deskriptivist genug ist, um die Auffassung, wonach es solche Situationen tatsächlich gibt, haltbar zu machen, sie eben nicht mehr tragisch sind. Trifft es, mit anderen Worten, zu, daß beide der mir offenstehenden Handlungen die moralische Eigenschaft der Falschheit haben, wobei das eben eine ihrer vielen deskriptiven Eigenschaften ist - warum sollte mir das überhaupt etwas ausmachen? Was die Situation tragisch macht, ist dies: Ich mache vom moralischen Denken Gebrauch, damit es mir in meiner Entscheidung darüber hilft, was ich tun soll; und wenn mir dabei nicht mehr an Aufklärung widerfährt als die, mit der uns jene 'absolutistischen' Denker versehen, die an sehr einfache und völlig unverletzliche Prinzipien glauben, so führt mich das in eine Sackgasse. Ich gleiche dann einer Ratte in einem Labyrinth ohne Ausweg; und das ist tragisch. Aber eben diese Tragödie könnte Anlaß sein, daß von humaneren Philosophen nach einer Alternative zu der Theorie gesucht wird, die mich überhaupt erst dorthin geführt hat. In einem solchen Konflikt zwischen verschiedenen Intuitionen ist es an der Zeit, die Vernunft ins Spiel zu bringen“ (MD 77).1)

„Nehmen wir also an, ich fange mit Prinzipien an, wonach man nie eine Handlung vollziehen sollte, die F ist (wobei F für irgendeine Handlungseigenschaft steht, z.B. für die, ein Fall der Nichterfüllung eines gegebenen Versprechens zu sein), und wonach man nie eine Handlung vollziehen sollte, die G (irgendeine andere Eigenschaft) ist; und ich finde mich nun in einer Situation wieder, in der ich es gar nicht umgehen kann, entweder eine F-Handlung oder eine G-Handlung zu tun. Und angenommen, ich entscheide mich angesichts aller Umstände dazu, daß ich die G-Handlung vollziehen sollte, um der (schlechteren) F-Handlung zu entkommen. Wir könnten es dann mit der Annahme versuchen, daß sich infolge dieses Stückchens moralischen Denkens (wie auch immer es vonstatten ging) eines meiner moralischen Prinzipien geändert hat. Es lautet jetzt nicht mehr 'Man sollte nie eine Handlung vollziehen, die G ist', sondern 'Man sollte nie eine Handlung vollziehen, die G ist - es sei denn, das ist notwendig, um eine Handlung zu vermeiden, die F ist'. […] Sind wir erst einmal in ein paar derartige Dilemmata verwickelt gewesen oder haben wir, ohne in Wirklichkeit in sie verwickelt zu sein, erst ein paar davon näher betrachtet, so werden die Prinzipien, die wir erhalten, sehr lang werden. Recht bald werden wir solche Prinzipien erhalten wie 'Man sollte nie eine Handlung tun, die G ist, es sei denn, sie ist notwendig, um eine Handlung zu vermeiden, die F ist, und sie (die G-Handlung) hat die Eigenschaft H; ist H nicht der Fall, so darf man es nicht'“ (MD 78f).

Was ist der Hintergrund von HAREs Beschreibung, wie sich Handlungsprinzipien (mit KANT zu reden: Maximen) ändern können? HARE wendet sich gegen zwei Positionen: den Intuitionismus auf der einen Seite, auf der anderen Seite die („deontologische“) Auffassung, moralische Maximen müßten möglichst einfach sein. Intuitionisten geraten in das beschriebene Labyrinth, weil sie nicht zwischen intrinsischen Gütern abwägen können (sie müssen an weitere Intuitionen appellieren). Moralisten, die von unveränderlichen Moralgesetzen ausgehen wie „Lüge nicht!“ stehen dem Problem, daß Pflichten kollidieren, noch hilfloser gegenüber, denn sie haben gar keine Möglichkeit zu entscheiden, welchem Gesetz, welcher Pflicht sie folgen sollen, wenn es keine Regel 2. Stufe gibt, die ihnen sagt, welche Regel 1. Stufe sie im Konfliktfall wählen sollen. Doch ist diese Regel 2. Stufe nicht mehr einfach; zudem wird das Problem nur auf eine andere Ebene gehoben, denn auch Regeln zweiter Stufe können kollidieren, so daß sie Regeln dritter Stufe zur Entscheidung benötigen, usw.

HARE unterscheidet zwischen zwei Arten moralischer Entscheidung. Die eine ist die gewöhnliche, die wir immer dann anwenden, wenn die Situation relativ klar vor uns liegt und zudem uns in ähnlicher Weise schon einmal begegnet ist. Wir entscheiden mit Rückgriff auf die uns anerzogenen und im Laufe unseres Lebens modifizierten moralischen Grundsätze.

Es wäre sinnlos zu bestreiten, daß es so etwas wie moralische Intuitionen gibt. Doch ist die Vermutung, daß es sich dabei um die verinnerlichten anerzogenen Grundsätze handelt, die uns z.B. unsere Eltern als Lebenshilfe (oder -störung) mit auf den Weg gegeben haben, nicht von der Hand zu weisen. Das erklärt nämlich, warum moralische Intuitionen in verschiedenen Gesellschaftsschichten und Kulturen so verschieden sind.

Moralische Intuitionen sind wichtig. Sie machen uns überhaupt erst entscheidungsfähig. Das Argument gegen Aktethiken (vgl. III.1) war ja, daß eine moralische Entscheidung vor jeder Handlung durch den nötigen Zeitaufwand eine Handlung verhindern würde: „Wer mit einer derartigen Doktrin liebäugelt, möge sich überlegen, was es bedeuten würde, wenn man Auto zu fahren hätte, ohne es erlernt zu haben, oder in einem Zustand, in dem man alles, was man je erlernt hatte, total vergessen hat; Auto zu fahren also, indem man ab initio in jedem Moment entscheidet, was mit dem Steuerrad, der Bremse und den anderen Vorrichtungen zu tun sei“ (MD 82). „Im moralischen Fall haben wir bei den meisten Gelegenheiten nicht die Zeit, jedesmal eine neue Glücksförderungsberechnung anzustellen, und würden den Bus verpassen“ (MD 262).

„Ein weiterer Grund dafür, sich in unserem moralischen Verhalten weitgehend auf relativ allgemeine Prinzipien zu verlassen, ist der, daß wir andernfalls der ständigen Versuchung zu einem Plädoyer in eigener Sache ausgesetzt sind“ (MD 84).

Diese relativ allgemeinen Prinzipien nennt HARE (nach W. D. ROSS) „prima-facie-Prinzipien“, also Prinzipien „auf den ersten Blick“. Prima-facie-Prinzipien sind

„für menschliches moralisches Denken zwar notwendig […], aber nicht hinreichend. Da eine jede neue Situation in einigen Aspekten von einer jeden früheren Situation verschieden sein wird, stellt sich unmittelbar die Frage, ob die Unterschiede für ihre Einschätzung, die moralische oder eine sonstige, relevant sind. Sind sie relevant, so kann es sein, daß die Prinzipien, die wir im Umgang mit vergangenen Situationen erlernt haben, den jeweils neuen Situationen nicht angemessen sind. So stellt sich die weitere Frage, wie wir denn entscheiden sollen, ob sie angemessen sind oder nicht. Die Frage drängt sich meist in solchen Fällen von selbst auf, in denen es zum Konflikt zwischen den von uns erlernten Prinzipien kommt - d.h. in denen wir, wie die Dinge nun einmal liegen, eben nicht beiden gehorchen können. Stellt sie sich aber in jenen Fällen, so kann sie sich in einem jeden Fall stellen, und es wäre nichts als intellektuelle Unredlichkeit, wenn man so täte, als sei dem nicht so“ (MD 86).

In diesen Fällen kommt eine andere Art moralischer Entscheidung zum Tragen. „Ich möchte hervorheben, daß bei dieser anderen Art des Denkens, die ich kritisches Denken nenne, an keine inhaltlichen moralischen Intuitionen appelliert werden kann. Sie verfährt in Übereinstimmung mit den durch die philosophische Logik etablierten und somit allein auf sprachlichen Intuitionen basierenden Regeln. Auf der kritischen Ebene inhaltliche moralische Intuitionen einzuführen, hieße, kritischem Denken gerade die Schwäche einzuverleiben, die zu beheben es eigens entworfen wurde. Ein Philosoph, der wünscht, daß seine Arbeit von Dauer sei, wird sich mit dem intuitiven Sand, auf den die meisten Moralphilosophen bauen, nicht zufrieden geben“ (MD 87). Wie das Kritische Denken funktionieren soll, werden wir im folgenden kennenlernen. Wir werden uns die beiden Eigenschaften der Moralsprache ansehen, die HARE für wichtig hält: Moralische Urteile sind präskriptiv und universell. Nach HARE haben diese formalen Eigenschaften der Moralsprache Auswirkungen auf das Kritische Denken.

VII.2 Die Präskriptivität der Moralsprache

Neusprech war die Amtssprache Ozeaniens und entworfen worden, um die ideologischen Anforderungen des Engsoz', oder englischen Sozialismus', zu erfüllen. Im Jahr 1984 gab es noch niemanden, der Neusprech als ausschließliches Mittel zur mündlichen oder schriftlichen Kommunikation benutzte…

George Orwell: Die Grundlagen des Neusprech


Die Idee, daß Moralsprache „präskriptiv“ (vorschreibend) ist, ist nicht von HARE. Wir hatten gesehen, daß STEVENSON von der „magnetischen Kraft“ moralischer Urteile spricht (vgl. II.1) - wenn man einen Zustand „gut“ nennt, ist diese Zuschreibung ein Grund, den Zustand herbeizuführen. (KUTSCHERA formuliert eine entsprechende „Korrespondenzthese“ (57): „Die subjektiven Präferenzen einer Person hängen mit ihren Annahmen über die moralische Wertordnung zusammen. Ihre Überzeugung, ein Sachverhalt A sei moralisch besser als B, bildet für sie einen Grund, A dem B vorzuziehen“.)

Diese Beobachtung ist jedoch logisch unbefriedigend. Wenn „gut“ tatsächlich Aufforderungscharakter hat, dann fragt sich, warum man einen Zustand herbeiführen sollte, zu dem man lediglich aufgefordert ist, der aber sonst keine Eigenschaft besitzt, die in irgendeiner Weise erstrebenswert wäre.

Betrachten wir mit HARE die einfachsten Beispiele auffordernder Sprache, die Imperative. Ist Folgendes ein gültiger Schluß?
P1 Geh zum größten Lebensmittelgeschäft in Aachen!
P2 Der Supermarkt ist das größte Lebensmittelgeschäft in Aachen.
C Geh zum Supermarkt!
Der Imperativ der Konklusion wird aus einem Imperativ in der ersten Prämisse und einer Definition in der zweiten Prämisse abgeleitet. Wir können den Imperativ ableiten, weil ein Imperativ Teil der Prämissenmenge ist. - Wir wissen schon, daß es nicht möglich ist, einen Imperativ aus Prämissen, die keinen Imperativ enthalten, abzuleiten (gemäß dem HUMEschen Gesetz, vgl. V.1). Die Moralsprache bedient sich aber zumeist keiner explizit formulierten Imperative, sondern Werturteile. HAREs Vorschlag ist es, Werturteile (vereinfacht) als implizite Imperative aufzufassen.

Dieser Vorschlag löst das Problem, wie aus einem Satz „Diese Handlung ist gut“ die Aufforderung „Tue diese Handlung!“ folgen kann. Denn wenn das Werturteil „diese Handlung ist gut“ nicht präskriptiv ist (keinen Imperativ enthält), dann gibt es keinen Grund, diese Handlung zu tun, außer daß wir vielleicht eine Vorliebe für „gute“ gegenüber „schlechten“ Handlungen haben, wie andere Leute Hunden Katzen als Haustiere vorziehen. Auch dafür gibt es keinen Grund, außer, daß Hunde eben Hunde und Katzen Katzen sind. „Dies ist eine Katze“ ist aber kein Satz, aus dem man in irgendeiner Weise nachvollziehbar „Wähle dieses Tier zum Hausgenossen!“ ableiten könnte.

Präskriptiv können natürlich auch andere Urteile sein, ästhetische Urteile z.B. „Wir sagen etwas Präskriptives dann und nur dann, wenn für einen Akt A, eine Situation S und eine Person P gilt: Wenn P dem, was wir sagen, zwar zustimmen, in S aber A trotzdem nicht tun würde, so muß seine Zustimmung aus logischen Gründen unaufrichtig sein“ (64).

[21] Die meisten Worte haben ein präskriptives Element. Im Gegensatz zu Worten wie „tapfer“ oder „gerecht“, die ohne weiteres auch beschreibend (deskriptiv) verstanden werden können, ist das für „gut“ oder „richtig“ schwierig. Sie sind vor allem in dem Sinne deskriptiv, als sie einen bestimmten Zustand oder eine bestimmte Handlung einer allgemeineren Menge von Zuständen oder Handlungen zuordnen, für die bereits der Imperativ (das Werturteil) gilt.

[22] Worin ist HAREs Analyse von Werturteilen (moralischen Urteilen) derjenigen STEVENSONs überlegen? Für HAREs Theorie gilt, daß Werturteile universell sind.

VII.3 Moralische Urteile sind universell

„Ich will eines der charakteristischen Merkmale von Wertwörtern mit einem besonderen Beispiel erläutern. Es ist ein Merkmal, das manchmal beschrieben wird, indem man sagt, 'gut' und andere derartige Wörter seien Namen für hinzukommende [superveniente] Eigenschaften oder Folge-Eigenschaften. Nehmen wir an, es hängt ein Bild an der Wand, und wir diskutieren darüber, ob es ein gutes Bild ist; mit anderen Worten, wir diskutieren darüber, ob wir dem Urteil 'B ist ein gutes Bild' zustimmen oder es ablehnen sollen. Es muß sich verstehen, daß der Zusammenhang klarmacht, daß wir mit 'gutes Bild' nicht 'gute Wiedergabe', sondern 'gutes Kunstwerk' meinen - obwohl beide Anwendungen Wertausdrücke wären.
Halten wir zunächst eine sehr wichtige Eigentümlichkeit des Wortes 'gut' fest, wie es in diesem Satz gebraucht wird. Nehmen wir an, neben B hängt ein weiteres Bild in der Galerie (ich will es C nennen). Nehmen wir an, daß B eine Nachbildung von C ist, oder daß C eine Nachbildung von B ist, daß wir aber nicht wissen, welches von beiden der Fall ist; doch wir wissen, daß beide vom selben Künstler ungefähr zur selben Zeit gemalt wurden. Eines können wir nicht sagen; wir können nicht sagen 'B ist in jeder Hinsicht genau wie C, außer daß B ein gutes Bild ist und C nicht'. Das würde folgenden Kommentar hervorrufen: 'Aber wie kann das eine gut und das andere nicht gut sein, wenn sie sich genau gleichen? Es muß einen weiteren Unterschied zwischen ihnen geben, der das eine gut und das andere nicht gut macht.' Wenn wir nicht zumindest die Relevanz der Frage 'Was ist es, das das eine gut und das andere nicht gut macht?' zugeben, ist es unvermeidlich, daß wir unsere Hörer verblüffen; sie werden annehmen, daß mit unserem Gebrauch des Wortes 'gut' etwas fehlgegangen ist. Manchmal können wir nicht genau sagen, was es ist, das das eine gut und das andere nicht gut macht; aber es muß da etwas sein. Angenommen, wir sagten in dem Versuch zu erklären, was wir meinen: 'Ich habe nicht gesagt, daß es einen zusätzlichen Unterschied zwischen ihnen gibt; es besteht nur dieser eine Unterschied, daß das eine gut und das andere nicht gut ist. Du würdest mich sicher verstehen, wenn ich sagte, daß das eine signiert und das andere nicht signiert sei, aber daß es keinen weiteren Unterschied gebe. Warum sollten wir also nicht sagen, daß das eine gut und das andere nicht gut sei, aber daß kein weiterer Unterschied bestehe?' Auf diesen Einwand ist zu erwidern, daß das Wort 'gut' nicht wie das Wort 'signiert' ist; es besteht ein Unterschied in ihrer Logik (SM 110f)“.

HARE hat die Ideen, die schließlich zu der Theorie des Moralischen Denkens, wie er sie in „Moral Thinking…“ darstellt, früh zu entwickeln begonnen. Dieses Zitat stammt aus seinem ersten Buch „Die Sprache der Moral“ (SM), das inzwischen als ein Standardwerk der Metaethik gilt. Es ist zuerst 1952 erschienen unter dem Titel „The Language of Morals“.

Die Auffassung, die HARE hier karikiert, ist die des intuitionistischen Objektivisten. HARE ist nicht der Meinung, daß wir deswegen behaupten müssen, beide oder keines der Bilder seien gut, weil die Bilder eine Menge von Eigenschaften haben, die zusammengenommen das Prädikat „gut“ verdienen (und weil beide Bilder diese Eigenschaften haben, verdienen sie beide das Prädikat) - das wäre Naturalismus.

HAREs Idee ist die, daß die Logik des Wortes gut verlangt, daß ein mit „gut“ formuliertes Urteil universell ist. Ich will diese Idee an einem anderen Beispiel ausführen, um dann auf „gut“ zurückzukommen.

Moralische Urteile sind vorschreibend, sie implizieren Imperative. Wir fassen den Begriff „Imperativ“ ebenso weit wie HARE und meinen damit nicht die grammatische Form, sondern den auffordernden oder befehlenden Satz. Ein Imperativ läßt sich mit „sollen“ wiedergeben: „Du sollst dies tun!“ ist in gewissem Sinne gleichbedeutend mit „Tue dies!“. Ein singulärer (geltend für eine bestimmte Situation, da in ihm Bezug auf Singularitäten genommen wird) Imperativ läßt sich mit Verweis auf einen allgemeineren Imperativ begründen. Aus „In einer Situation vom Typ X sollte man dieses tun“ und „Ich bin jetzt in einer Situation vom Typ X“ folgt: „Ich sollte jetzt dieses tun“.

Doch funktioniert der Prozeß auch umgekehrt. Mit „sollte“ formulierte singuläre Imperative formen allgemeinere Prinzipien: Nehmen wir an, zwei Leute reisen zusammen im Zug. Der eine schlägt vor, sein Radio anzumachen. Doch mit Rücksicht auf den einen im Nachbarsitz schlafenden Fahrgast sagt der andere: „Du solltest hier nicht das Radio anmachen“. (Dabei ist beiden klar, daß er damit nicht meint: „Eigentlich sollte man Schläfer nicht stören“, was es dann ermöglichen würde, eine Ausnahme zu proklamieren: „aber in diesem Fall…“; sondern er hat einen Imperativ ausgesprochen, der für diese Situation gilt, in der ein Fahrgast durch das Radio gestört würde.) Wenn sie nun zusammen in ein anderes Abteil gingen, damit sie dort Radio hören könnten, und in diesem Abteil auch jemand schliefe, dann wäre es logisch, zu sagen: „In dem Abteil eben solltest du nicht das Radio anmachen, weil jemand schlief; hier schläft auch jemand, also muss das Radio auch hier aus bleiben.“

Allgemeiner: In der Situation X, die dadurch gekennzeichnet ist, daß jemand im Raum schläft, sollte man nicht Radio hören; in der Situation Y, die in allem genauso ist wie X, darf man aber Radio hören - wer so etwas ernsthaft behauptet, von dem könnten wir sagen, daß er unseren üblichen Gebrauch des Wortes „sollen“ nicht verstanden hat.

Die Übertragbarkeit des Sollens auf eine andere Situation gründete in diesem Beispiel darin, daß diese Situation als „genau so“ wie die andere Situation beschrieben worden ist. Es reicht aber aus, daß sie in den „relevanten“ Merkmalen gleich ist. Relevant sind in einer Situation die Merkmale, die wir in einen allgemeinen Imperativ (ein allgemeines Prinzip) aufnehmen würden. (Vgl. auch MD 145f zur Relevanz von Situationsmerkmalen).

Zurück zu den beiden Bildern. Mit „gut“ verhält es sich genauso wie mit „sollen“: Es hat die formale Eigenschaft, universell zu sein, d.h. für jedes Einzelding, das wir gut nennen, treffen wir ein Urteil über in relevanten Merkmalen gleiche Einzeldinge. Da sich die beiden Bilder gleichen, sind alle ihre Merkmale gleich, also trivialerweise auch die relevanten (welche das auch sein mögen). Darum ist es unlogisch, das eine Bild „gut“ zu nennen und das andere nicht. (Das ist keine Form des Naturalismus: Wir brauchen, wenn wir etwas gut nennen, nicht zu wissen, was an diesem Ding gut ist bzw. welches seiner Merkmale es gut macht. Wir müssen lediglich bereit sein, das gleiche Urteil auf gleiches anzuwenden.)

VII.4 Kritisches Denken

Meine Lieblings-, wie sagten sie bloß? Landschaften, Tiere, Pflanzen? Lieblings-? Bücher, Musik, Baustile, Malerei? Ich habe keine Lieblingstiere, keine Lieblingsmoskitos, Lieblingskäfer, Lieblingswürmer, beim besten Willen kann ich ihnen nicht sagen, welche Vögel oder Fische oder Raubtiere ich vorziehe, auch wählen zu müssen, viel allgemeiner, zwischen Organischem und Anorganischem, würde mir schwerfallen.

Malina, Ingeborg Bachmann


Kritisches Denken hat zwei Funktionen. Zum einen soll es zwischen konfligierenden prima-facie-Prinzipien wählen können, zum anderen soll es neue prima-facie-Prinzipien bilden können. Die Frage, die sich ein Kritischer Denker also stellen muß ist: Welches ist das prima-facie-Prinzip, dessen Befolgung in Situationen vom Typ X die besten Folgen haben wird?

Wie funktioniert Kritisches Denken? Zunächst einmal: Im Gegensatz etwa zu KANTs Moral a priori kommt das Kritische Denken nicht ohne empirische Daten aus. Es ist vielmehr umso besser, je mehr Daten zur Verfügung stehen, die eine Situation beschreiben. Zu den Daten, die eine Situation beschreiben, gehören auch die „Präferenzen“ der in sie involvierten Personen, seien es die des Entscheidenden, seien es die der Opfer. Präferenzen sind „Vorlieben“, und zwar bewußte und formulierte Vorlieben, jedenfalls im moralphilosophischen Sprachgebrauch. Präferenzen können eine gewisse „Stärke“ haben, so daß man sie gewichten kann.

Die Idee, die eigenen Präferenzen bei der Beschreibung einer Situation zu berücksichtigen, ist nicht neu. Jeder Egoist hält das für selbstverständlich. Die Präferenzen anderer zu berücksichtigen, ist dagegen eine nie so deutlich explizierte Forderung: Sie macht nämlich auf das „Problem des Fremdpsychischen“ aufmerksam: Woher können wir wissen, wie andere empfinden (vor allem, wenn wir sie nicht fragen können)?

Könnte man nämlich die Frage nach den eigenen Präferenzen und denen der anderen beantworten, dann ließe sich eine Handlungsregel formulieren, die die Erfüllung so vieler Präferenzen wie möglich (bzw. die Befriedigung der Präferenzen so vieler Leute wie möglich) fordert. Diese Theorie ist eine Form des Utilitarismus: Glück (Lust [pleasure]) ist eine erfüllte Präferenz.

HAREs Ansatz ist folgender: Wir wissen, daß Handlungsregeln keine singulären Ausdrücke enthalten dürfen, da moralische Wörter universell gebraucht werden. Eine Regel muß also akzeptabel sein, auch wenn sie universell formuliert ist. Daraus folgt, daß es für die Entscheidung, ob die Regel gültig sein soll, keine Rolle spielt, welchen Platz der Entscheidende in der Regel gerade einnimmt.

So bekommen wir Aufschluß darüber, wie die Präferenzen anderer Leute wohl aussehen: Die universelle Geltung der Regel verpflichtet uns, zu berücksichtigen, daß wir darin jede mögliche Stelle einnehmen können; und besonders aufschlußreich sind natürlich die Stellen der Opfer. Wir können die Präferenzen anderer aus denen ableiten, die wir hätten, wenn wir in ihrer Lage wären. Damit erhalten wir natürlich nicht ihre Präferenzen, sondern unsere, die wir in ihrer Lage hätten. Aber genau das macht einen Vergleich möglich - die Schwierigkeit bestünde ja darin, zwischen dem verschiedenen Gewicht der Präferenzen abzuwägen. Daß wir zum Abwägen von Präferenzstärken durchaus in der Lage sind, solange es sich um unsere eigenen Präferenzen handelt, zeigt unser tägliches Leben. Hare bringt ein Beispiel:

„Wenden wir das nun […] an. Der andere will, daß ich sein Fahrrad nicht zur Seite rücke; aber ich will es zur Seite rücken, um so mein Auto parken zu können. Ich bin mir der Stärke seines Wunsches voll bewußt; und daher habe ich einen Wunsch von der gleichen Stärke, nämlich den, daß, wäre ich in seiner Lage, das Fahrrad stehen bleibt, wo es ist. Aber ich habe auch meinen ursprünglichen Wunsch, es beiseite zu rücken, um mein Auto zu parken. Dieser letztere Wunsch bleibt infolge seiner größeren Stärke Sieger. Wenn andererseits unsere beiden Positionen vertauscht wären (das Fahrrad ist meines, das Auto seines) und ich es irgendwie verhindern könnte, daß das Fahrrad zur Seite gerückt wird, so wäre der Fall von meiner individuellen Warte aus betrachtet ein anderer (wenngleich nicht in seinen universellen Eigenschaften). Angenommen, in diesem anderen Fall sei mein Wunsch, daß das Fahrrad nicht zur Seite gerückt werden soll, bei weitem schwächer als der Wunsch des anderen, sein Auto parken zu können; und angenommen, ich sei mir der Stärke des Wunsches voll bewußt, und hätte daher einen gleichen Wunsch des Inhalts, daß, wäre ich in seiner Lage, ich mein Auto parken können sollte. Ich habe dann in dieser neuen Situation wieder zwei Wünsche: den ursprünglichen Wunsch, mein Fahrrad stehen zu lassen, wo es ist, und meinen gerade erst erworbenen Wunsch, daß, wenn ich der andere wäre, ich mein Auto parken können sollte; und der letztere Wunsch wird der stärkere sein. Und somit werde ich in dieser anderen Situation der Überzeugung sein, daß das Fahrrad zur Seite gerückt werden sollte“ (MD 170f).

„Der Punkt ist: die hypothetischen Fälle, um die es uns bei dieser Art des kritischen Denkens geht, sind solche, die sich in ihren universellen Eigenschaften von den tatsächlich vorkommenden nicht unterscheiden. Daraus folgt, daß ein jedes wirklich universelles Prinzip auch für sie gelten wird. Es gibt keine Möglichkeit, ein wirklich universelles Prinzip zu formulieren, das etwas für tatsächlich vorkommende Fälle vorschreibt, dasselbe aber nicht auch für nicht tatsächlich vorkommende Fälle tut, die den tatsächlich vorkommenden in all ihren universellen Eigenschaften gleichen und sich von diesen nur in den Rollen unterscheiden, die von einzelnen Individuen in ihnen gespielt werden“ (MD 174).

Wichtig ist, daß auch zukünftige Präferenzen berücksichtigt werden können. HARE entwickelt ein Modell, das es erlaubt, Präferenzen aus der Zukunft (HARE nennt sie „dann-für-dann-Präferenzen“ in Präferenzen aus der Gegenwart („jetzt-für-dann-Präferenzen“) zu übersetzen. Sie können dann in ihrem Gewicht mit „jetzt-für-jetzt-Präferenzen“ verglichen werden.

VII.5 Kritik des Kritischen Denkens

„Ich glaube ihnen“, sagte Wimsey. „Aber das kommt daher, daß ich auch Dinge glauben kann, die ich nicht verstehe. Alles nur eine Frage der Übung.“

Zur fraglichen Stunde, Dorothy L. Sayers


Zunächst einmal ein paar Worte zu der Frage, ob HARE nun ein Nonkognitivist ist oder nicht. Nach ihm ist die Frage „Was soll ich tun?“ in einer konkreten Situation beantwortbar, und von dieser Antwort läßt sich entscheiden, ob sie die beste Handlung empfohlen hat oder nicht. Im Rahmen der HAREschen Konzeption hat also der Satz „Die Handlung X in Situation Y ist die zu vollziehende Handlung“ einen Wahrheitswert; er ist entweder wahr oder falsch. Aus diesem Grund halte ich es für legitim, HARE nicht den Nonkognitivisten zuzurechnen. - Aber das sind nur Zuordnungen.

HARE verbindet in seiner Theorie zwei Ideen miteinander: die KANTische Idee der Universalisierung und die Utilitaristische Idee der Präferenzerfüllungsmaximierung. Dabei finde ich die Verpflichtung, eine Situation in ihren (relevanten) universellen Eigenschaften zu betrachten, wohlbegründet und überzeugend.

Schwierig wird es mit dem Abwägen der Präferenzen. Aus mehreren Gründen: HAREs Beispiel mit dem Radfahrer ist solange leicht zu übersehen, wie es sich um nur einen handelt, der von der Aktion betroffen ist. Wie ist es, wenn eine Handlungen die Interessen mehrerer Personen berührt bzw. den Präferenzen mehrerer zuwiderhandelt? Da eine Situationsbeschreibung nur Individuenvariablen enthält, kann man sich für jede Betrachtung der Situation in ihren universellen Eigenschaften nur in eine Opferrolle hineindenken! Das utilitaristische Konzept der Summenbildung - ich addiere die Präferenzen der anderen und vergleiche sie mit meinen - kommt hier nicht zum Tragen.2)

Des weiteren finde ich die Vorstellung wenig überzeugend, daß die Präferenzen, die ich für mich in der Opferrolle annehme, denen ähnlich sind, die jemand anders hat. Habe ich es tatsächlich auf Präferenzenerfüllung abgesehen, dann muß ich auch von der Verschiedenheit der Menschen ausgehen - und es hat die Präferenzerfüllung eines Masochisten das gleiche Gewicht wie die Erfüllung meiner Präferenzen. Nur erfahre ich nichts über die Präferenzen eines Masochisten, da ich keiner bin und dementsprechend keine masochistischen Präferenzen ausbilden werde, auch wenn ich mit ihm die Rollen tausche. Ich habe keinen blassen Schimmer davon, wie stark die Präferenzen eines Masochisten sein können. Wie soll ich sie also berücksichtigen können?

Weiter mit Kapitel 8.

1)
Richard Mervyn HARE. Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz. (Als Sigle benutze ich „MD“.) Zuerst erschienen 1981 unter dem Titel „Moral Thinking: Its Levels, Method and Point“.
2)
Anmerkung: Dieser Einwand stammt von Ingmar PERSSON, „Universalizability and the summing of desires“, (mit einer sehr schwachen Entgegnung HAREs) in dem HARE gewidmeten Heft Theoria 55, 1989.
themen/ethikeinfuehrung/kap_07.txt · Zuletzt geändert: 2018/12/10 20:41 von jge