Wenn im Urwald ein Baum umfällt, und keiner hört zu, welche Farbe hat dann der Baum?
Hermann Toothrot, Monkey Island II, Le Chucks Rache. LucasArt Games
Wir wissen, daß eine Folgerung wahr ist, wenn wir wissen, daß sie formal korrekt aus wahren Prämissen abgeleitet wurde. Woher wissen wir, daß die Prämissen wahr sind?
Die Ablehnung objektiver Werte läßt sich nicht auf „Wahrheit“ ausdehnen. Es gibt - unbezweifelbar - eine Welt, in der wir sind. Wir wissen, daß etwas ist, und dieses Wissen ist allen gemeinsam. Wir können über diese Welt reden; in den meisten Fällen verstehen wir einander. Es ist so offensichtlich entscheidbar, ob der Briefkasten um die Ecke gelb ist, daß es verführerisch ist, das Gelb des Briefkastens als objektive Wahrheit zu nehmen. Aber was heißt „objektiv“? -
Läßt sich Wahrheit unabhängig von jemandem denken, der wahrnimmt?
Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen, von in irgendeiner Weise Ausgesagtem. Die Feststellung, daß Ausgesagtes von jemandem ausgesagt wird, mag trivial scheinen, aber sie erlaubt, dem Gedanken objektiver Wahrheit eine Absage zu erteilen.
Ein Satz ist wahr, wenn das, was er aussagt, der Fall ist - so lautet eine konservative Definition von wahr. Doch „wenn ich nach der Welt frage, kann man mir als Antwort anbieten, wie sie innerhalb eines oder mehrerer Bezugsrahmen beschaffen ist; wenn ich aber darauf beharre, daß mir gesagt werde, wie sie außerhalb aller Bezugsrahmen sei, was kann man mir dann sagen? Wir sind bei allem, was beschrieben wird, auf Beschreibungsweisen beschränkt. Unser Universum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten“ (Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 15. zum Thema Wahrheit dort besonders die Kapitel I und VII).
Die Naturwissenschaften, die seit langem als diejenigen Wissenschaften gelten, die am ehesten in irgendeiner Weise eindeutig wahre Sätze zustandezubringen in der Lage sind, haben ebenfalls mit dem Problem der Wahrheit zu kämpfen. Sätze werden für wahr gehalten in Bezug auf ein geltendes Paradigma. Einfach, da übersichtlich, ist dies an historischem Beispiel zu zeigen: Der Satz „Die Sonne kreist um die Erde“ galt als wahr bis zur Kopernikanischen Wende. Heute scheint es uns selbstverständlich, daß die Erde um die Sonne kreist - aber es ist ohne weiteres möglich, die Bahn der Sonne in Abhängigkeit von einer stillstehenden Erde anzugeben: Die Sonne kreist immer noch um die Erde. Es ist eine Frage der Beschreibung.
Die einzige Bedingung, die jedes Bezugssystem erfüllen muß, ist die der Widerspruchsfreiheit: Es können in keinem System einander ausschließende Sätze wahr sein, denn „ex falsum quodlibet“ - aus einem Widerspruch läßt sich jeder Satz ableiten.(Anmerkung: Ein Journalist soll einmal RUSSELL gefragt haben, was es bedeute, daß aus einem Widerspruch alles bewiesen werden könne. RUSSELL möge doch einmal beweisen, daß er der Papst sei. RUSSELL: „Nehmen wir einen falschen Satz, z.B. '2+2=5' und einen wahren: '2+2=4'. Die setzen wir gleich. Da 2+2=2+2, ist 5=4. Wir subtrahieren 3 auf jeder Seite und erhalten '2=1'. Nun, sie werden ja wohl zugeben, daß ich und der Papst 2 sind.“) Widerspruchsfreiheit als einziges Konstituens für Wahrheit anzusehen, scheint mir jedoch nicht zu funktionieren, jedenfalls nicht im Bereich der Ethik.
Manche Beschreibungen scheinen uns plausibler als andere; manche Beschreibungen sind so tief in unserem kulturellen Erbe verwurzelt, daß wir sie gar nicht mehr als Beschreibungen wahrnehmen. Ich denke, daß Beschreibungen wie „gut“ in einem Sinne wahr sind für ein bestimmtes System an Konventionen: Wenn in unserer Sprachgemeinschaft seit Urzeiten etwas „gut“ genannt worden ist, dann ist die Zuschreibung „gut“ ähnlich der Feststellung: In unserer Kultur gilt dies als erstrebenswert; ich erstrebe es auch. Die Schwierigkeit liegt darin, das Bezugssystem explizit zu machen, das heißt: die Prämissen anzugeben, die eine Zuschreibung „X ist gut“ für den Einzelfall wahr machen.
Es soll hier nicht darüber nachgedacht werden, welche Prämissen im Gebrauch sind. Das wäre deskriptive Ethik oder deskriptive Ästhetik. Es soll nur begründet werden, warum es sinnvoll ist, eine „anthropologische Prämisse“ anzunehmen. Die These ist, daß sich eine moralische Bedeutung von „gut“ verteidigen läßt, die Sätze über gute Handlungen wahr macht, wenn diese Handlungen der „anthropologischen Prämisse“ gerecht werden. Mit einer solchen Prämisse wären wir in der Lage, die Frage „Warum moralisch sein?“ zu begründen mit dem Hinweis auf die Natur des Menschen: „Weil Menschen so sind, daß diese Handlung für sie gute Folgen hat“. Das hat den interessanten Effekt, daß, je mehr wir über den Menschen wissen, wir desto genauer angeben können, ob etwas tatsächlich (moralisch) gut ist!
Genaugenommen ist es gar nicht notwendig zu wissen, ob eine Handlung gut ist. Es reicht, in einer Situation entscheiden zu können, ob die Handlung nicht schlechter ist als jede andere mögliche Handlung (vgl. VI.24). Die Richtigkeit einer Handlung ist rational entscheidbar: Eine Handlung gelte dann als richtig, wenn sie in einer Entscheidungssituation zum besten Ergebnis mit Rücksicht auf die anthropologische Prämisse führt.
Damit ist klar, daß uns Moral zweckgebunden ist: Sie dient dazu, den einzelnen daran zu hindern, so zu handeln, daß seine Handlung schlechte Folgen für die Gesamtheit der Menschen oder für beliebig viele Einzelne unter diesen Menschen hat.
Es scheint, daß bei unseren Überlegungen kaum etwas Neues herausgekommen ist. Das ist nur zum Teil richtig. Wir haben den Ansatz einer Konzeption entwickelt, in der prinzipiell entscheidbar ist, ob die Einordnung einer Handlung (einer Handlungsregel) als „gut“ oder „schlecht“ wahr oder falsch ist. Damit ist unsere Version kognitivistisch. Sie ist allerdings weder subjektivistisch noch objektivistisch. Sie ist weder intuitionistisch noch naturalistisch. Am ehesten könnte man sie „intersubjektivistisch“ nennen, aber das ist ein ziemlich häßliches Wort.
Diese Konzeption ist nicht konservativ: Wenn sich die Vorstellung davon, wie der Mensch ist, ändert, ändert sich auch das moralische System.
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?
[…]
Der einzige Ausweg wär aus diesem Ungemach:
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß!
Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!
Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan
Diese Konzeption ist vor allem unausgegoren. Ich habe weder einen Vorschlag dafür, wie die Anthropologische Prämisse lautet, noch eine Vorstellung davon, welche Folgen sie für konkrete Handlungsregeln hat. Angedeutet habe ich, daß ich es für richtig halte, der Tatsache in irgendeiner Weise gerecht zu werden, daß Menschen sich ihr Leben teilen. Des weiteren scheint es mir unabdingbar, daß eine Handlung als zeitliches Phänomen begriffen wird: Die Folgen einer Handlung können weit in die Zukunft reichen. Der Begriff „Verantwortung“ scheint mir diesen beiden Aspekten (Sein-in-Zeit und Sein-unter-Vielen) gerecht werden zu können.
Mir scheint, daß wir einiges von dem zuletzt diskutierten System übernehmen sollten: HAREs Zwei-Ebenen-Modell des Moralischen Denkens und die Idee der prima-facie-Prinzipien halte ich für ebenso plausibel wie die Universelle Präskriptivität der Moralsprache und deren Folgen für das Universalisierbarkeitspostulat. Daß sich das Universalisierbarkeitspostulat aus der Moralsprache ableiten läßt, bedeutet nicht, daß Universalisierbarkeit eine rein logisch geforderte Eigenschaft ist: das Sein spiegelt sich zuallererst in der Sprache; bereits die Tatsache, daß wir überhaupt sprechen (kommunizieren) können, zeigt, daß Menschsein die Notwendigkeit der Verständigung mit anderen beeinhaltet.
Mir scheint eine Warnung angebracht: Eine Konzeption, die sich explizit auf die Vorstellung davon stützt, was Menschen sind und wie sie sind, ist offen für Mißbrauch. Wir werden nicht umhin kommen, die anthropologische Prämisse mit ständigem Mißtrauen auf ihre Evidenz hin zu überprüfen. Vielleicht sollten wir die anthropologische Prämisse in eine „animalische“ Prämisse erweitern - um nicht ein Tierschutzgebot wie Kant damit rechtfertigen zu müssen, daß Grausamkeit gegen Tiere Grausamkeit gegen Menschen einübt und darum verwerflich ist. Vielleicht läßt sich das durch eine Formulierung „Leben ist Leben in Beziehung zur Umwelt“ erreichen. Vielleicht auch nicht.
Weiter mit Kapitel 9.