Ich röhrte meine Stimme frei; ich sagte barsch: „Sie wissen aus ihrem Schopenhauer, daß die Welt Wille und Vorstellung ist; er hält bei dieser Erkenntnis inne, tut den letzten Schritt nicht; aber am Ende wird dies beides in einem Wesen furchtbarer Macht und Intelligenz vereint sein.“ Der Pfarrer hob lächelnd und heilig-erfreut den Kopf: „Gott“, sagte er nickend und beruhigt, „Sie kommen nicht um seine Tatsache herum -.“ Ich wandte nicht einmal die Augen; ich sprach: „Der Dämon. Er ist bald er selbst; bald west er in universaler Zerteilung. Zur Zeit existiert er nicht mehr als Individuum, sondern als Universum. Hat aber in allem den Befehl zur Rückkehr hinterlassen […]. Um das Wesen des besagten Dämons zu beurteilen, müssen wir uns außer uns und in uns umsehen. Wir selbst sind ja ein Teil von ihm: Was muß also Er erst für ein Satan sein?! Und die Welt gar schön und wohleingerichtet finden kann wohl nur der Herr von Leibniz ('von' und siehe hierzu Klopstocks Anmerkungen in der Gelehrtenrepublik), der nicht genug bewundern mag, daß die Erdachse so weise schief steht, oder Matthias Claudius, der den ganzen Tag vor christlicher Freude sich wälzen und schreien wollte, und andere geistige Schwyzer. Diese Welt ist etwas, das besser nicht wäre; wer anders sagt, der lügt! […]„
Leviathan, Arno Schmidt
Ich bin mir nicht sicher, inwieweit es gerechtfertigt ist, das Problem theonomer Ethiken auf jenes Problem zu reduzieren, welches zum ersten Mal in PLATONs Dialog „Euthyphron“ indirekt artikuliert wird.
In diesem Dialog beschreibt PLATON, wie Sokrates, während er sich in den Räumen des Gerichts aufhält, von Euthyphron angesprochen wird. Dieser ist erstaunt und fragt, was Sokrates dort zu tun habe. Es stellt sich jedoch bald heraus, daß Euthyphron weniger daran interessiert ist, von Sokrates dessen Rechtsstreit zu erfahren (es handelt sich bereits um Meletos' Anklage, die später zur Verurteilung und zum Tode Sokrates' führt) als vielmehr, ihm von seinem eigenen Prozeß zu erzählen.
Euthyphron hat seinen Vater angeklagt, weil dieser seiner Meinung nach jemanden ermordet hat. Ob es ein Verwandter gewesen sei, der den Tod gefunden habe, will Sokrates wissen. Euthyphron antwortet, das mache ihm keinen Unterschied; man müsse „vielmehr nur darauf achten, ob der, der gemordet hat, es Rechtens getan hat oder nicht; und wenn Rechtens, müsse man ihn unbehelligt lassen, andernfalls aber gegen ihn gerichtlich vorgehen […] denn gleich schlimm ist die Befleckung, wenn du als Mitwisser mit einem solchen Menschen umgehst und dich selbst und jenen nicht dadurch entsühnst, daß du Klage gegen ihn erhebst“ (4bf).1)
Zur griechischen Rechtspraxis dieser Zeit muß man wissen, daß Sokrates sich deswegen danach erkundigt, ob denn ein Verwandter umgekommen sei, weil es üblich war, daß die Verwandten des Toten Klage erhoben, wenn Verdacht auf Mord bestand. Daß Euthyphron hier gegen seinen Vater für einen Fremden eine Klage einreicht, ist vollkommen unüblich - es scheint, als spräche daraus der Gedanke eines rechten Handels unabhängig von persönlichen Interessen, sogar gegen die persönlichen Interessen: Eigentlich müßte Euthyphron seinem Vater mehr verpflichtet sein als einem Fremden.
Euthyphron erklärt den Hergang der Tat. Sein Vater hatte einen Mörder, der bei ihm als Tagelöhner diente, ergreifen und in eine Grube werfen lassen, um Zeit zu haben, die Rechtskundigen befragen zu lassen. Der Gefangene erhielt nichts zu essen in dieser Zeit und starb, wie Euthyphron berichtet: „Vor Hunger und Kälte nämlich und unter dem Zwang der Fesseln fand er den Tod, ehe noch der Bote von den Rechtskundigen zurückgekehrt war“ (4d).
Natürlich sind die Verwandten von Euthyphrons Vater alle aufgebracht gegen das Verhalten des Sohnes, da es unfromm sei, „daß der Sohn gegen den Vater wegen Mordes gerichtlich vorgehe“ (4d). Euthyphron schließt daraus, daß die Verwandten „nur mangelhaft wissen […], wie das göttliche Recht sich verhält hinsichtlich des Frommen und des Unfrommen“ (4d).
Wer weiß, wer die Bombe gelegt hatte; in jenen Tagen gab es viele, die Gewalt säten. Vielleicht war es sogar eine monotheistische Bombe, die ein besonders fanatischer Glaubensbruder Mahmouds im „Imperium“ gelegt hatte, denn offenbar explodierte der Zeitzünder während einer besonders schlüpfrigen Liebesszene, und wir wissen, was die Gottesfürchtigen von der Liebe halten - oder von ihrem Abbild -, vor allem, wenn man Eintrittsgeld zahlen muß, um sie zu sehen … sie sind dagegen. Sie zensieren sie. Liebe verdirbt die Sitten.
Scham und Schande, Salman Rushdie
Euthyphron verhält sich unkonventionell. Er nimmt für sich in Anspruch, dennoch rechtgemäß zu handeln, da er nach dem „göttlichen Recht“ handle, und das sei wahre Frömmigkeit. (Anmerkung: Die betreffenden Wörter sind osios bzw. anosios und die davon abgeleiteten Substantive. Sie bedeuten ebenso „nach göttlichem Recht geboten“ wie „nach natürlichem Recht geboten“ und dann „heilig“, „fromm“, „recht“. Göttliches und natürliches Recht sind untrennbar verbunden.) Diese Behauptung des Euthyphron nimmt nicht weiter Wunder: Er ist Seher. Wer sonst, wenn nicht ein Seher, sollte denn über das Göttliche und das Fromme Bescheid wissen?
So denkt auch Sokrates, und damit ist die Ausgangslage für einen sokratischen Dialog klar. Sokrates brennt darauf, an dem Wissen des Euthyphron teilzuhaben und fordert diesen daher auf, es ihn zu lehren - es könnte ihm vielleicht bei seinem Streit mit Meletos nützlich sein, wenn er genau wüßte, was recht und was unrecht sei. Allerdings wäre es dazu notwendig, daß Euthyphron ihm sagte, was denn an allen frommen bzw. rechten Handlungen das Gemeinsame sei. (Anmerkung: Sokrates' Frage geht nach der „bestimmten Gestalt“ (wie LEGGEWIE übersetzt), die alles Fromme habe. Das Wort im Griechischen ist „idea“ (5d/6d) (übersetzt als „Urform“ oder „Urbild“), „eidos“ (6d) und „paradeigma“ (6e) (übersetzt als „Muster“); es ist das, was bei jedem frommen Handeln gleich ist. „Idee“ ist Philosophen ein Signalwort - der junge PLATON denkt hier seiner Ideenlehre vor.)
Euthyphron bringt dann zunächst ein Einzelbeispiel: Auch Zeus habe seinen Vater in Fesseln geschlagen - was ein Gott getan habe, sei sicher eine fromme Handlung. Dieses Beispiel vermag aber Sokrates nicht zufriedenzustellen; zum einen ist es nur ein Beispiel und liefert kein Kriterium, woran sich rechtes Handeln erkennen läßt, zum anderen sind Handlungen der Götter kaum als Vorbild geeignet, da die vielen Götter der Griechen durchaus unterschiedliche Dinge getan haben, darunter auch solche, die Sokrates intuitiv nicht für richtig hält (6c).
Euthyphron bietet dann als Definition an, fromm bzw. recht sei, „was den Göttern lieb sei“ (6ef). Er sieht sich durch den Hinweis des Sokrates darauf, daß sich die Götter durchaus nicht immer darin einig seien (7b), zu der Ergänzung gezwungen, fromm sei, was allen Göttern lieb sei (9d).
Ein einziges, ein letztes Mal
träume ich, herabzufallen in den Raum,
zu leben auf der Insel der Farben,
zu leben wie ein Mensch,
zu versöhnen die blinden mit den sehenden Göttern,
ein letztes Mal.
Ein einziges Mal, Adonis
[19] Sokrates stellt Euthyphron nun die naheliegende Frage: „Erwäge nämlich folgendes: Wird das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt, oder ist es fromm, weil es von ihnen geliebt wird?“ (10a)
[20] Die naheliegende Antwort ist die, daß eine „fromme“ Handlung deswegen als fromm beschrieben werden kann, weil sie den Göttern lieb ist. Um fromm handeln zu können, müßte also bekannt sein, was den Göttern lieb ist. Doch stellt sich dann die Frage, aus welchem Grund etwas den Göttern lieb ist?
[21] Sokrates legt Euthyphron die Antwort nahe, daß all das, was die Götter lieben, etwas gemein habe, nämlich, daß es recht sei. Diese beiden Sachverhalte werden aber durch das gleiche Wort bezeichnet: Die Götter lieben das Fromme, weil es recht ist, und es ist recht, weil es von ihnen geliebt wird. (Anmerkung: Der Katholische Katechismus (München 1993) hat zu diesem Thema folgendes zu sagen: “[311] Gott ist auf keine Weise, weder direkt noch indirekt, die Ursache des moralischen Übels“. Würden wir nicht sagen, daß, wenn das Gute durch das Gottgeliebte definiert wird, Gott zumindest der Grund für die Ordnung gut/schlecht ist? Oder wird im Katholischen Katechismus das moralisch Falsche so gedacht, daß es auch falsch wäre, wenn es keinen Gott gäbe? „[387] … Nur in Erkenntnis dessen, wozu Gott den Menschen bestimmt hat, erfaßt man, daß die Sünde ein Mißbrauch der Freiheit ist, die Gott seinen vernunftbegabten Geschöpfen gibt…“ Daraus folgt, daß entweder die „Sünde“ (das Gottungeliebte) nicht identisch ist mit dem moralisch Falschen - so umginge man Euthyphrons Dilemma -, oder der Katechismus nicht widerspruchsfrei. Oder beides.)
[22] Euthyphron kann nicht genauer antworten, da im griechischen Denken natürliches Recht und göttliches Recht miteinander verknüpft sind. Sokrates als ewiger Zweifler hingegen kann zumindest aufzeigen, daß da eine Frage offen ist: Das Rechte ist das Gottgeliebte. Ja, aber ist es wirklich recht? (Anmerkung: Woher wissen wir, daß Gott ein guter Gott ist? Das ist (logisch betrachtet) eine Prämisse, deren Wahrheit nicht beweisbar ist - was nicht weiter schlimm wäre - aber sie ist nicht einmal evident (vgl. das Zitat von Arno SCHMIDT aus „Leviathan“ zu Beginn von IX.11).
Es war ein schwerer Tag. Franz Joseph sah den Zettel an, auf dem der Tagesplan aufgezeichnet war, Stunde für Stunde. Es gab nur eine griechische Kirche im Ort. Ein römisch-katholischer Geistlicher wird zuerst die Messe lesen, dann der griechische. Mehr als alles andere strengten ihn die kirchlichen Zeremonien an. Er hatte das Gefühl, daß er sich vor Gott zusammennehmen müsse wie vor einem Vorgesetzten. Und er war schon alt! Er hätte mir so manches erlassen können! dachte der Kaiser. Aber Gott ist noch älter als ich, und seine Ratschlüsse kommen mir vielleicht genauso unerforschlich vor wie die meinen den Soldaten der Armee! Und wo sollte man da hinkommen, wenn jeder Untergeordnete seinen Vorgesetzten kritisieren wollte!
Radetzkymarsch, Joseph Roth
„Unter den rationalen oder Vernunftgründen der Sittlichkeit ist doch der ontologische Begriff der Vollkommenheit [..] dennoch besser als der theologische Begriff, sie von einem göttlichen, allervollkommensten Willen abzuleiten; nicht bloß deswegen, weil wir seine Vollkommenheit doch nicht anschauen, sondern sie von unseren Begriffen, unter denen der der Sittlichkeit der vornehmste ist, ableiten können, sondern weil, wenn wir dieses nicht tun (wie es denn, wenn es geschähe, ein grober Zirkel im Erklären sein würde), der uns noch übrige Begriff seines Willens aus den Eigenschaften der Ehr- und Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Racheeifers verbunden, zu einem System der Sitten, welches der Moralität gerade entgegengesetzt wäre, die Grundlage machen müßte“ (GMS 68/443).
Weiter mit Kapitel 10.