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X Ethik und Ästhetik - Wertungen

X.1 Über den Zusammenhang von "gut" und "schön"

Er säuberte sich die Zahnzwischenräume, als habe er nie etwas anderes getan. Er ließ den Zahnstocher am Rande des Tellers liegen, um sich, sobald er fertig gekaut hatte, wieder ans Wühlen zu machen. Stunde um Stunde, rauf und runter, von rechts nach links, von links nach rechts, von vorne nach hinten, von hinten nach vorne. Er hob die Oberlippe an, wie zur Hasenscharte, und zeigte seine gelblichen Schneidezähne, einen nach dem andern; zog die Unterlippe herunter bis zum wurmstichigen Zahnfleisch: bis sie ihm blutete; ein wenig nur.
Ich
verwandelte ihm seinen schönen Zahnstocher in ein Bajonett und rammte es ihm in den Hals.
Er würgte daran bis zum jüngsten Gericht. Ich habe keine Angst, ihn dort zu sehen. Ferkel haben keinen Mut.

Max Aub: 80 Seiten, 60 Morde. Mord No 6.


Die Gedanken dieses Kapitels sind zum Teil angeregt durch die Bücher von GOMBRICH und GOODMAN (siehe Literaturverzeichnis) sowie KANTs KdU.

Traditionell werden Ethik und Ästhetik für ähnlich gehalten: Beide befassen sich mit Wertungen. Was bewertet wird, ist verschieden, aber das heißt nicht, daß die Werte verschieden sein müssen. Im antiken Griechenland wurden das Gute und das Schöne zusammengedacht. Vollkommenheit galt später als Wert, der sowohl einer sittlichen Handlung als auch einem Kunstwerk zugeschrieben werden konnte.

Das Schöne Geschlecht war nie das Gute Geschlecht.

Kunstwerke werden seit jeher mit gleicher Beharrlichkeit „schön“ und „gut“ genannt. Eine Handlung „schön“ zu nennen (und damit ein moralisches Urteil zu fällen) wäre allerdings exzentrisch. „Schön“ scheint eine eher oberflächliche Charakterisierung zu sein.

Katarina WITT antwortete in einer Talkshow einmal auf die Frage, wie ihr Traummann sein müsse: „Er muß zu seinen Schwächen stehen können“. Wenn alle Werte, die in irgendeiner Weise positiv sind, unter gewissen Bedingungen mit „gut“ gleichgesetzt werden können - „gut“ ist die umfassendste Bejahung -, dann heißt das, daß Kati WITTs Traummann dadurch gut wird, daß er sein Schlechtsein nicht verbirgt.

BAUDELAIREs „Blumen des Bösen“ gelten als Beispiel dafür, daß ein Kunstwerk etwas Häßliches beschreiben kann, ohne selbst häßlich zu sein. Warum sollte Sprache die Eigenschaften des Besprochenen annehmen? Die Schilderung einer moralisch verwerflichen Tat ist doch nicht verwerflich?

Daß, auf Handlungen angewandt, „gut“ und „schön“ heute nicht das gleiche bedeuten (daß überhaupt zweifelhaft ist, was eine schöne Handlung sein soll), wirft die Frage auf, ob sich für Kunstwerke ähnliche Schwierigkeiten ergeben: Ist ein „schönes“ Kunstwerk das gleiche wie ein „gutes“ Kunstwerk?

X.2 Kunst und Regel

Da ich also die Schönheit als mein Gebiet erkannt hatte, fragte ich mich weiter, in welchem Tone sie sich am vollkommensten äußern könne. Nun hat uns alle Erfahrung gelehrt, daß sie in der Trauer zum gesteigertsten Ausdruck kommt. Schönheit, in welcher Art sie auch immer erscheinen möge, erregt in ihrem erhabensten Stadium die sensitive Seele zu Tränen. Und die Melancholie ist der geeignetste Ton für ein Gedicht. […] Nun fragte ich mich weiter: „Welche Vorstellung wird von der Menschheit im allgemeinen als die trauervollste empfunden?“ „Die des Todes“, war die sichere Antwort. „Und wann“, forschte ich weiter, „ist diese trauervollste Verbindung zugleich am poetischsten?“ Nach all dem, was ich hier oben des längeren erörtert habe, fällt die Antwort nicht schwer: „Dann, wenn sie sich am innigsten mit der Schönheit verbindet. Der Tod einer schönen Frau ist also der poetischste Vorwurf, der überhaupt zu denken ist. […]„

Philosophie der Komposition, Edgar Allan Poe

In der bildenden und abbildenden Kunst sind die Werke seit der Renaissance bis zum Impressionismus der Natur immer ähnlicher geworden - die Kunst hat „Fortschritte“ in der Kunst der realistischen Darstellung gemacht.

Ordnen wir nicht die Bilder zweier Kinder, die gleich alt sind, qualitativ danach ein, welches der beiden unserem Empfinden nach der Wirklichkeit näherkommt (wenn wir keine Rücksicht auf die Gefühle der Kinder nehmen müssen)?

Die Entdeckung der Zentralperspektive „überwindet“ die flächige Darstellung. - Der Sprachgebrauch enthält bereits die Warnung.

Wirklichkeitsnähe oder Realismus eines Bildes scheint ein objektiver Maßstab für die Qualität eines Bildes zu sein - bis zum Impressionismus. Seitdem haben wir von den Künstlern gelernt, daß es noch andere Dinge gibt, die bei der Bewertung des Kunstwerkes zählen. Wer sagt denn, daß ein Kunstwerk notwendig ein Bild der Welt ist?

In der Musik bedeutet die atonale Reihentechnik SCHÖNBERGs einen gänzlichen Umbruch wie die abstrakte Malerei in der bildenden Kunst und der Expressionismus (und, auf andere Weise, der DADA) in der Literatur. Die meisten Zeitgenossen stehen diesen Bewegungen zunächst ablehnend gegenüber, da es keinen Wertmaßstab zu geben scheint, dem sich das Neue fügt.

Bewertungen verlangen anerkannte Maßstäbe. Jedes Neue überschreitet den konventionellen Maßstab und erweitert ihn. Neuheit (Originalität) gilt seit jeher als der entscheidende Unterschied zwischen handwerklich perfektem Schaffen und Genie: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt“ (KdU 160/181). Die Bewertungsregel (der Maßstab), die dem Kunstwerk angemessen ist, entsteht durch das Kunstwerk.

X.3 Zum Unterschied von "gut" und "schön"

Wurde noch vor kurzer Zeit das Wort Scheiße in Büchern durch Pünktchen ersetzt, so geschah das nicht aus moralischen Gründen. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Scheiße sei unmoralisch! Die Mißbilligung der Scheiße ist metaphysischer Natur. Der Moment der Defäkation ist der tägliche Beweis für die Unannehmbarkeit der Schöpfung. Entweder oder: entweder ist die Scheiße annehmbar (dann schließen Sie sich also nicht auf der Toilette ein!) oder aber wir sind als unannehmbare Wesen geschaffen.
Daraus geht hervor, daß das ästhetische Ideal des kategorischen Einverständnisses mit dem Sein eine Welt ist, in der Scheiße verneint wird und alle so tun, als existiere sie nicht. Dieses ästhetische Ideal heißt Kitsch. […] Kitsch ist die absolute Verneinung der Scheiße; im wörtlichen wie im übertragenen Sinne: Kitsch schließt alles aus seinem Blickwinkel aus, was an der menschlichen Existenz unzumutbar ist.

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, Milan Kundera


Der Unterschied zwischen „das Bild ist schön“ und „das Bild ist gut“ scheint mir darin zu bestehen, daß der erste Satz ohne Widerspruch korrigiert werden kann in: „Du findest das Bild schön“. Unter Seufzen wird zugestanden, daß sich über Geschmack „bekanntlich streiten“ lasse (bzw. nicht streiten lasse).

„Das ist ein gutes Bild“ ist hingegen kein Geschmacksurteil, keine Aussage über den Sprecher und sein Empfinden, sondern eine Aussage über das Bild. Sachverständige entscheiden im Dienst von Zeitungen, ob eine Theateraufführung gut war. Ich erinnere mich daran, daß mir ein Freund einmal sagte, jenes Musikstück gefalle ihr, aber er könne nicht beurteilen, ob es gut sei, er verstehe nichts davon.

Die Schönheit eines Werkes ist offenbar keine Bedingung für seine „Gutheit“. Die Fähigkeit, die Gutheit eines Werkes zu beurteilen, bedarf der Erfahrung, Übung.

„Heute bin ich gut drauf, da gefällt mir alles“ wäre keine akzeptable Begründung für ein Gefallen am Werk: Welches Werk gerade betrachtet (gehört) wird, wäre ja dann unwichtig. Eine Bewertung eines Gefallens (Schönheit oder Gutheit) braucht zunächst eine Beschreibung des Werks bzw. derjenigen Gesichtspunkte des Werks, auf die sich das Urteil stützt. Schönheit kann aber anders gerechtfertigt werden als Gutheit: „Das Bild ist symmetrisch komponiert, darum gefällt es mir“ ist genauso sinnvoll wie „das Bild ist symmetrisch komponiert, darum gefällt es mir nicht“. „Das Bild ist symmetrisch komponiert, darum ist es gut“ scheint zu wenig zu sein für ein Qualitätsurteil.

Zuschreibung (schön!) und Beschreibung sind eher willkürlich und können sich auf diese Willkür sogar zurückziehen (und sich so unangreifbar machen). Warum gibt es so viel Kitsch in der Welt? Irgendjemandem muß er wohl gefallen.

X.4 Werturteile: Zuschreibung und Beschreibung

Was aber sei der Humanismus? Liebe zum Menschen sei er, nichts weiter, und damit sei er auch Politik, sei er auch Rebellion gegen alles, was die Idee des Menschen besudele und entwürdige. Man habe ihm eine übertriebene Schätzung der Form zum Vorwurf gemacht; aber auch die schöne Form pflege er lediglich um der Würde des Menschen willen, im glänzenden Gegensatze zum Mittelalter, das nicht allein in Menschenfeindschaft und Aberglauben, sondern auch in schimpfliche Formlosigkeit versunken gewesen sei, und von allem Anbeginn habe er die Sache des Menschen, die irdischen Interessen, habe er Gedankenfreiheit und Lebensfreude verfochten und dafür gehalten, daß der Himmel billig den Spatzen zu überlassen sei. Prometheus! Er sei der erste Humanist gewesen…

Thomas Mann: Der Zauberberg


Von einem Experten, einem Kunstkritiker erwarten wir, daß er Gründe angeben kann, die möglichst unabhängig sind von subjektiven Eindrücken: „Das Bild ist schlecht, denn ich mag keine dunklen Farben“ wäre kein Ausweis von Expertentum.

Manchmal wirkt die Diskussion im Literarischen Quartett (Anmerkung: Einstmals berühmte Fernsehsendung, in der 4 Literaturkritiker belletristische Neuerscheinungen besprachen) so, als hätten die Kritiker verschiedene Bücher gelesen: Sie beschreiben, was sie gelesen haben, anders. Deshalb fällen sie verschiedene Werturteile.

Ob sie zu den gleichen Werturteilen kämen, wenn sie das Gelesene gleich beschrieben, ist eine interessante (aber nur spekulativ zu beantwortende) Frage.

Ästhetische Werturteile sind ebenso universell wie ethische Werturteile: Jeder Gegenstand, auf den die Beschreibung zutrifft, die Grundlage des Werturteils ist, wird gleich bewertet. Das ist ein Gesetz der Logik. Es wäre unsinnig zu sagen, daß zwar dieses Buch „Unter Rosterzittern“ ein gutes Buch sei, aber jenes Buch, das dort drüben liegt und den gleichen Titel hat, sei kein gutes Buch. Daß zwei Bücher gleich sind, ist der überzeugendste Fall von Ähnlichkeit zwischen Kunstwerken.

(Würden wir sagen, daß nicht das Buch das Kunstwerk sei, sondern die abstrakte Entität „Text“? Was machen wir mit Übersetzungen? Ist nicht der Text das Kunstwerk, sondern die kunstvolle Folge von Gedanken?)

Wann ist eine Beschreibung für ein Urteil über die Gutheit eines Kunstwerkes angemessen? Ein Farbenblinder sieht Bilder anders als ein normal sehfähiger Mensch. Seinen Urteilen über Bilder werden wir mißtrauisch gegenüberstehen, weil wir wissen, daß seine Beschreibungen der beurteilten Gegenstände einen wesentlichen Gesichtspunkt nicht enthalten, nämlich die Farbe. Darum können seine Urteile nicht wohlbegründet sein. (Bei Zeichnungen trauen wir ihm vielleicht ein Urteil zu.)

Wäre es richtig zu fordern, daß jemand, von dem wir ein kompetentes Urteil erwarten, prinzipiell zur vollständigen Wahrnehmung befähigt sein müsse? Was bedeutete dies? Vollständige Wahrnehmung kann so näher erklärt werden: Dem Wahrnehmenden darf nicht die Fähigkeit mangeln, sämtliche Dimensionen des Kunstwerks zu sehen (Farbe sei eine Dimension) - sämtliche relevanten Elemente. (Setzt Relevanz einen Zweck voraus?)

X.5 Werturteile: Beschränkte Beschreibung

31. Dezember (1911). Gerade weil seine Fähigkeiten so beschränkt sind, fürchtet er sich, weniger zu tun als alles. Selbst wenn seine Fähigkeit nicht gerade unteilbar klein sein sollte, will er doch nicht verraten, daß unter Umständen und bei Miteintritt seines Willens auch weniger Kunst ihm zur Verfügung stehen kann als seine ganze. (Die freie, ohne Rücksicht auf die Aufpasser im Parterre vor sich gehende, nach den rein gefühlten Bedürfnissen der Darstellung gelenkte…) (bricht ab)

Franz Kafka: Tagebücher

Ein Indianer geht mit seinem weißen Freund durch die Großstadt. Alles ist ihm neu und fremd. Auf einmal bleibt er stehen, beugt sich zu einem zwischen den Pflastersteinen wachsenden Grasbüschel nieder, teilt es behutsam mit den Händen und findet darin, zur Überraschung seines Freundes, eine Grille. Auf die Frage, woher er gewußt habe, daß dort eine Grille sein würde, antwortet er: „Ich habe sie gehört“. Nach einer Weile beginnt die Grille wieder zu zirpen; der Freund, der die Grille nun sieht, hört das Geräusch auch. Es ist sehr leise. „Du bist eben ein Indianer und hast schärfere Sinne“, tut er die Begebenheit ab. Da nimmt der Indianer eine kleine Münze aus der Tasche und läßt sie auf den Gehsteig fallen. Viele der vorbeigehenden Passanten drehen sich nach dem Geräusch des Aufpralls und des leisen Schepperns um. „Siehst du“, sagt der Indianer seinem Freund, „das Geräusch der Münze war genauso laut wie das Zirpen der Grille. Es war nicht die Lautstärke des Geräuschs, was die Sinne der Passanten gereizt hat.“ (Irgendwo gelesen, aus dem Gedächtnis nacherzählt, Quelle vergessen)

Die These, daß die Wahrnehmung von der Gewohnheit (von Gewußtem) beeinflußt wird, ist mittlerweise in der Ästhetik Allgemeingut. „Es gibt kein unschuldiges Auge“ (no innocent eye - und kein unschuldiges Ohr, keinen unschuldigen Sinn) ist die prägnante Formel dafür. Sie bedeutet: Nicht aus dem Wahrgenommenen wird ausgewählt, was in die Beschreibung aufgenommen wird, sondern was wahrgenommen wird, ist bereits eine Auswahl. Robert GARLAND malte 1836 ein Bild der Kathedrale von Chatres. „Aber […] dieser Künstler war nicht imstande, sich von den Beschränkungen, die seine Zeit und seine Neigungen ihm auferlegten, loszulösen. Er war ein Romantiker, für den die gotischen Kathedralen Frankreichs die schönste Blüte mittelalterlicher Frömmigkeit verkörperten. So konnte es geschehen, daß ihm auch die Kathedrale von Chatres als rein gotischer Bau erschien. Die romanischen Rundbogen der Westseite, die nicht zu dieser seiner Vorstellung paßten, werden einfach weggelassen, beziehungsweise in gotische Spitzbögen umgewandelt“ (92), so Sir Ernst GOMBRICH, Kunst und Illusion (zuerst unter dem Titel „Art and Illusion“ 1959 erschienen). Er zeigt zur Erläuterung eine Abbildung des Bildes sowie eine Photographie der Kathedrale - dieses wunderbare, so „realistische“ Bild stimmt tatsächlich in diesem kleinen Detail nicht mit der „Wirklichkeit“ überein.

Manchmal ist es leicht zu zeigen, daß eine Beschreibung nicht der Wirklichkeit entspricht. Dann ist die Beschreibung falsch. Aber wann ist die Beschreibung unvollständig? Und wie können wir sicher sein, daß wir in der Lage sind zu erkennen, ob eine Beschreibung falsch ist? - Wir könnten alle den gleichen Fehler machen bei der Beschreibung der Wirklichkeit; erst spätere Generationen kämen darauf, daß wir geirrt haben.

Der Musiker Claudio MONTEVERDI galt nicht Zeit seines Lebens allen als guter Komponist. 1600 schrieb ARTUSI, selbst jemand, der viel von Musik verstand (er war Kapellmeister in Bologna), gegen MONTEVERDI „Über die Unvollkommenheit der modernen Musik“ und führte genau aus, was er an MONTEVERDIs Kompositionen für unvollkommen hielt. In einer modernen Musikgeschichte wird ARTUSI mit der Einordnung „Reaktionär“ abgetan. „Falsche“ Werturteile werden eben „überwunden“.

Weiter mit Kapitel 11.

themen/ethikeinfuehrung/kap_10.txt · Zuletzt geändert: 2018/12/10 20:55 von jge