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themen:ethikeinfuehrung:kap_11

XI Egoismus und moralische Dilemmata

XI.1 Egoismus

Agnes sagte sich, wenn der Kastner noch nie recht gehabt hätte, so habe er eben diesmal recht. Sie müsse wirklich mehr an sich denken, sie denke zwar eigentlich immer an sich, aber wahrscheinlich zu langsam.

Ödön von Horvath: Sechsunddreißig Stunden


Warum haben wir den Egoismus als ethische Theorie nicht im ersten (Kapitel 1-4) oder im zweiten Teil (Kapitel 5-8) unserer Überlegungen betrachtet? Nun: Ich habe starke Zweifel, daß Egoismus in irgendeiner Form eine brauchbare moralische Theorie ist - unabhängig davon, welche Meinung man über den Status moralischer Äußerungen oder über den Zweck der Moral haben mag. Ich bin zwar der Meinung, daß Moral dazu da ist, sicherzustellen, daß die eigenen Interessen gegenüber den Interessen aller anderen nicht stärker gewichtet werden, aber eine solche Definition von Moral schließt per se Egoismus aus.

Umgekehrt wäre es allerdings ein gutes Argument für irgendein System moralischer Normen, wenn sich zeigen ließe, daß jede Form von Egoismus ungeeignet für Entscheidungen ist, d.h., daß Egoismus kein Handlungskriterium sein kann.

Um dieses zu zeigen, müssen wir zunächst einmal wissen, welche Theorie wir überhaupt angreifen. Allgemein gilt als „ethischer Egoismus“ ein wertmonistisches Normensystem, das danach strebt, dem Handelnden die besten Folgen zu verschaffen, unabhängig davon, was die Handlung anderen an Konsequenzen bereitet.

Des weiteren gibt es den von den Kritikern so genannten „psychologischen Egoismus“: Es ist dies die These, daß jede Handlung, sei sich der Handelnde nun darüber klar oder nicht, aus selbstsüchtigen Motiven geschieht: Jeder Handelnde habe mit seiner Handlung primär seine eigenen Interessen im Auge; die Interessen aller anderen würden nur insofern (und deswegen) berücksichtigt, als es im primären Interesse des Handelnden sei, daß den anderen Gutes geschieht. Wer Befriedigung schöpft aus der Tatsache, daß er nett zu anderen ist, wäre also nicht um des Nettseins willen nett, sondern weil es ihn befriedigt.

Was ist dran an der Behauptung, jedwede Handlung läge letztendlich im Eigeninteresse? Mir scheint, daß hier die Grenzen des Begriffes „Eigeninteresse“ so weit geworden sind, daß zwar in der Tat jede Handlung bzw. jedes Handlungsmotiv hineinfällt, daß aber auf der anderen Seite die Feststellung, daß wir alles irgendwie im eigenen Interesse tun, nicht weiter von Bedeutung ist. Eine Handlung wird nicht dadurch moralisch verwerflich, daß wir sie im Eigeninteresse tun (wenn Eigeninteresse so weit gefaßt ist).

Zudem ist die These, daß wir alles im Eigeninteresse tun, unbeweisbar. Denn einer der Gründe für ihre Evidenz ist gerade, daß auch eine Handlung, die so aussieht, als sei sie nicht aus Eigennutz (im Eigeninteresse) vollzogen worden, so interpretiert werden kann, als sei sie aus Eigeninteresse geschehen. So könnten wir sogar MUTTER THERESA egoistische Motive unterstellen - weil es ihr eben Befriedigung bereite, Pestkranke zu pflegen (und was sie sonst so macht). (Anmerkung: Genausogut könnten wir aber sagen, daß jede Handlung aus altruistischen Motiven vollzogen wird: Denn es liegt im Interesse aller, daß es jedem einzelnen gut geht. Diese Behauptung wäre nicht weniger unbegründbar, verfügte allerdings auch nicht über weniger empirische Evidenz.)

KUTSCHERA (S. 60) weist darauf hin, daß unabhängig von allen Versuchen, den psychologischen Egoismus ad absurdum zu führen, gegen diesen die Tatsache spreche, daß es keine unbewußten Motive oder Absichten gebe.

XI.2 Ethischer Egoismus

was dir versprochen wurde sollst du auch halten.

Barbara Köhler: Ernte


Tatsächlich ist es nicht der psychologische Egoismus, der problematisch ist, sondern der ethische Egoismus, also die Idee, man solle so handeln, daß der Eigennutzen dadurch maximiert werde.

Soll unser ethischer Egoist rational sein? Dann muß er der Auffassung sein (und sie praktisch vertreten, wenn er um Rat gefragt wird), daß jeder so handeln sollte, daß er seinen Eigennutzen maximiert. Das ist gar nicht selbstverständlich; er könnte, wenn er um Rat gefragt wird, Ratschläge geben, die seinen Nutzen maximieren, nicht den des Ratsuchenden. Er würde er dann wohl nicht sehr häufig um Rat gefragt.

Der ethische Egoist sieht sich immer dem Problem gegenüber, wie sein Eigennutzenprinzip auf seine Mitmenschen wirkt. Das bedeutet: Er ist von gesellschaftlichen Sanktionen bedroht, wenn Eigennutzen als Handlungsprinzip deutlich wird. Darum ist es in seinem Interesse, so zu handeln, daß nicht bemerkbar wird, wie er nur in eigenem Interesse handelt.

Es gibt keine stärkere Widerlegung des rationalen ethischen Egoismus'. Genaugenommen gibt es überhaupt keine Widerlegung des ethischen Egoismus', nur Gründe dafür, warum er vermutlich nicht sehr effektiv sein wird. Außerdem ist der Hinweis berechtigt, daß das, was wir uns vielleicht als Horrorgestalt eines radikalen Egoisten denken, ein sehr unglücklicher Mensch sein muß: Radikaler Egoismus wäre es, denke ich, so zu handeln, daß die Handlung den größten Eigennutzen hat, wobei Eigennutzen auch davon abhängt, ob jemand anderer davon Nutzen hat. Wenn jemand anderer Nutzen aus dieser Handlung haben sollte, wäre der Eigennutzen (im Vergleich zu diesem anderen) geringer. - Ein so abwägender Mensch hätte keine Freunde.

XI.3 Moralische Dilemmata

Am Ariadnefaden seines Denkens beginnt er, nach dem Minotaurus zu suchen, in den verschlungenen Gängen beginnt er zu fragen, zuerst, wer denn der Minotaurus überhaupt sei, später, ob es ihn überhaupt gebe, und endlich beginnt er zu überlegen - wenn er ihn immer noch nicht gefunden hat -, warum denn, wenn es den Minotaurus nicht gebe, das Labyrinth überhaupt sei: Vielleicht deshalb, weil Theseus selber der Minotaurus ist und jeder Versuch, diese Welt denkend zu bewältigen - und sei es nur mit dem Gleichnis der Schriftsteller -, ein Kampf ist, den man mit sich selber führt: Ich bin mein Feind, du der deinige.

Labyrinth, Friedrich Dürrenmatt


Was ist ein moralisches Dilemma, und warum ist dieses Thema einen eigenen Abschnitt wert? Ein moralisches Dilemma - in der klassischen Definition - ist eine Situation, in der unter moralischen Gesichtspunkten sowohl eine Handlung A als auch eine Handlung B geboten sind; aber nur eine dieser beiden Handlungen kann vollzogen werden. Wenn es solche Situationen gibt, dann ist unsere Ethik als Instrument der Entscheidung moralischer Zweifelsfälle gescheitert - denn wir haben uns der Frage, was am besten zu tun sei, gerade deswegen zugewandt, damit wir in Zweifelsfällen entscheiden können, und nicht, damit wir in Zweifelsfällen erfahren, daß in diesen Situationen leider keine Entscheidung richtig ist.

Diese Erklärung nimmt das Ergebnis vorweg, zu dem wir kommen sollten: Es gibt keine moralischen Dilemmata. Nichtsdestotrotz wäre es möglich, daß wir etwas übersehen haben, und darum ist es sinnvoll, denke ich, sich die Gründe derjenigen für die Existenz moralischer Dilemmata anzusehen, die daran festhalten, daß es welche gebe. Es sollte von vornherein klar sein, daß die Auflösung der Frage natürlich von dem System der Entscheidung in moralischen Zweifelsfällen abhängt, dem wir Vertrauen schenken. Es wäre also möglich, daß wir einen Teil der Gründe, die für die Existenz moralischer Dilemmata angeführt werden, einfach mit Hinweis auf die Überlegungen des ersten und des zweiten Teils abtun können.

Es gibt mindestens vier Gründe, die für die Existenz moralischer Dilemmata angeführt werden.

Der erste Grund ist, daß in einer Situation, in der wir im Zweifel sind, welche Handlung die richtige ist, weil beide geboten sind, wir uns aber (notgedrungen) für eine der alternativ möglichen Handlungen entscheiden müssen, ein Gefühl von Bedauern [regret] oder Schuld [guilt] zurückbleiben wird. Dieses Gefühl entspricht dem Imperativ, dem wir nicht nachkommen konnten. Daß wir ein solches Gefühl empfinden, deutet darauf, daß es tatsächlich zwei (moralische) Verpflichtungen waren, zwischen denen wir uns zu entscheiden hatten, und das Gefühl erklärt sich daraus, daß wir einer nicht gefolgt sind. So argumentiert z.B. Bernard WILLIAMS in dem Aufsatz „Ethical Consistency“, zuerst 1965 erschienen: „The agonies that a man will experience after acting in full consciousness of such a situation are not to be traced to a persistent doubt that he may not have chosen the better thing; but, for instance, to a clear conviction, that he has not done the better thing because there was no better thing to be done“ (123).

Der zweite Grund ist, daß in einer Situation, in der eine Entscheidung zu fällen ist, möglicherweise Unklarheit über die moralisch relevanten Tatsachen herrscht. „In this class of cases there can be no preassigned moral solution to the dilemma in virtue of higher-order principles or a given ordering of one's duties and obligations and the like, because part of the very dilemma is just one's uncertainty as to one's actual moral situation, one's situation with respect to duties, obligations and principles. For example, it may be unclear whether it really is one's duty as a citizen to vote against the Communist candidate, and also unclear whether one is under an obligation to vote for the Communist candidate in view, let us say, of financial help received from the Communists in the Resistance during the war. Hence one is in a moral dilemma because there is some evidence that one should vote Communist and some that one should not“ (109).1)

Der dritte Grund ist, daß möglicherweise verschiedene Werte bei der Beurteilung der möglichen Handlungen einander widerstreiten, die einander inkommensurabel, d. h., einander unvergleichbar sind. Eine Gewichtung nach einem Nutzenprinzip etwa wäre dann nicht möglich. „However, if we take the idea of outweighing seriously, and try to think of an alternative to ordering as a method of rationalizing decisions in conditions of conflict, the thing to look for seems to be a single scale on which all these apparently disparate considerations can be measured, added, and balanced. […] My reason for doubt is theoretical: I do not believe that the source of value is unitary - displaying apparent multiplicity only in its application to the world. I believe that value has fundamentally different kinds of sources, and that they are reflected in the classification of values into types“. 2); Werte, die in dem Begegnen einer Herausforderung durch eine selbstgestellte Aufgabe erfahren werden können))

Der vierte Grund ist, daß Situationen denkbar sind, in denen zwei Handlungen (moralisch) geboten sind, wir aber nicht beide ausführen können, weil das Ausführen der einen das Ausführen der anderen ausschließt. Ruth MARCUS führt als Beispiel für eine solche Situation an, daß Zwillinge (von ähnlichem Lebenslauf usw.) in eine gefährliche Situation geraten sind, wir aber nur einen der beiden retten können, obwohl es uns natürlich für jeden der beiden moralisch geboten sei, ihn zu retten.

Earl CONEE („Against Moral Dilemmas“, zuerst 1982 erschienen) argumentiert gegen moralische Dilemmata vom ersten Typ, bezugnehmend auf WILLIAMS, der als Beispiel die Situation Agamemnons vor dem Auslaufen der griechischen Flotte gen Troia zitiert hatte: Agamemnon muß sich zwischen der Verpflichtung als Heerführer und der Verpflichtung als Vater entscheiden; er weiß, daß er in jedem Fall das Gefühl haben wird, falsch entschieden zu haben. „We can suppose that Agamemnon subscribed to a moral code that he had no reason to question, on which both sacrificing and sparing his daughter were obligatory. That would be a flaw in the code, but nothing that would place it beyond reasonable belief. If we like, we can say that we thereby acknowledge moral dilemmas as 'facts of rational moral psychology'. That gives very little to advocates of the real possibility of moral dilemmas. What they need is reason to think that some rational acceptable dilemma-prone moral code might possibly be true“ (241f). Die Frage nach moralischen Dilemmata stellt sich erst dann, wenn wir tatsächlich ein rationales Moralsystem (mit überzeugenden Prämissen) beurteilen sollen. Agamemnons Dilemma ist ein Grund dafür, warum das sich auf die Gebote der Götter berufende System aufgegeben werden muß - aber kein Grund dafür anzunehmen, daß ein von Dilemmata freies System moralischer Normen (oder Werte) unmöglich ist. Zudem läßt sich, so CONEE, Agamemnons Bedauern durch den zugestandenermaßen bedauerlichen Umstand erklären, daß er seine Tochter geopfert hat - was er bedauern kann, ohne daß dieses Bedauern moralischer Natur wäre: „One who believes in a dilemma-free morality can reasonably feel regret in cases where adhering to it had harmful results. I conclude that Williams' assertions about regret offer no substantial support for moral dilemmas“ (242).

Gegen die Existenz moralischer Dilemmata vom zweiten Typ läßt sich einwenden, daß es wohl kaum ein moralisches Dilemma ist, wenn man über die Situation (welchen ihrer Gesichtspunkte auch immer) nicht genau Bescheid weiß. Es ist eher ein Erkenntnisproblem. Außerdem weist CONEE nachdrücklich darauf hin, daß nicht alles, was so aussieht, als sei es eine Verpflichtung, moralisch verpflichtend ist (diese Feststellung könnte helfen, den Status der Situation zu klären): „Moral obligations are not that easily incurred, however. An extreme example makes the point most vividly. Consider the executioner in some horrendous death camp. He has duties in virtue of being executioner. But they are not moral duties; they are merely part of the job. Nor do they become moral obligations if he has committed himself to killing his victims, nor if he subscribes to the moral necessity of his work“ (240f).

Gegen den dritten Grund spricht ein Prinzip, das HARE mit in die Definition von Moral aufnimmt: Moralische Werte sind anderen Werten übergeordnet. Es mag also durchaus unvereinbare Bewertungen geben, aber es bleibt eine Behauptung, daß es unvereinbare moralische Bewertungen gibt (jedenfalls, wenn man ein vernünftiges Moralsystem hat). „Wenn es zwischen zwei Wertungen […] zum Konflikt kommt (nicht in dem Sinn, daß sie einander widersprechen, sondern in dem Sinn, daß wir so, wie die Tatsachen nun einmal sind, nicht nach beiden zugleich handeln können), dann lassen wir es manchmal zu, daß die eine der beiden die andere unterordnet. Nach meiner Interpretation bedeutet dieser Ausdruck nicht nur, daß wir tatsächlich nach der einen und nicht nach der anderen Vorschrift handeln, sondern daß wir auch glauben, wir sollten nur nach der einen handeln, obwohl das mit sich bringt, daß die andere außer acht gelassen werden muß. Angenommen zum Beispiel, in meinem Collegezimmer steht ein scharlachrotes Sofa, für das mir meine Frau ein magentafarbenes Kissen zum Geburtstag schenkt; angenommen, ich vertrete nun, soweit es um Ästhetik geht, die Meinung, daß Scharlachrot nicht neben Magentarot zu liegen kommen darf; ich könnte trotzdem der Ansicht sein, daß ich das Kissen auf dem Sofa lassen sollte; denn ich bin vielleicht, was die Moral betrifft, der Meinung, daß man die Gefühle seiner Frau nicht verletzen […] sollte. Beachten wir dabei, daß ich keine meiner ästhetischen Ansichten aufgeben, ja nicht einmal modifizieren muß, um an der Ansicht festhalten zu können, daß ich das Kissen auf dem Sofa lassen sollte“ (FV 188).

Das Beispiel des vierten Grundes versucht zu zeigen, daß es unvereinbare moralische Bewertungen gibt: Es behauptet nämlich, daß es das gleiche Prinzip ist, das gebietet, den einen Zwilling zu retten, wie jenes, das gebietet, den anderen zu retten, da die Zwillinge nicht unterscheidbar sind. In der Tat ist das ein echtes (wenngleich sehr unwahrscheinliches und darum theoretisches) Dilemma. Aber ist es ein moralisches? Die Folgen der beiden möglichen Handlungen sind voraussichtlich gleich, d.h. sie dürfen als gleich angenommen werden (sonst wäre es ja kein Dilemma!). Die Umstände sind für beide Zwillinge gleich. Es ist klar, daß jeder der beiden gerne gerettet werden möchte (und auch, daß ich, egal wie ich entscheide, mich gegenüber dem jeweils nicht geretteten vermutlich schuldig fühlen werde, obwohl es keinen rationalen Grund dafür gibt). Ich vermute, daß man an erster Stelle von mir verlangen würde, ich dürfe keinen der beiden bevorzugen, denn eine (willkürliche) Bevorzugung wäre eine unmoralische Entscheidung. Da es aber keinen moralisch relevanten Unterschied gibt, ich auch keinen willkürlich bevorzugen möchte, bin ich gezwungen, einen Unterschied einzuführen (etwa den, daß ich eine Münze werfe). Dieses Weitergeben der Entscheidung an den Zufall ist moralisch nicht verwerflich, da es ja egal ist, welchen Zwilling ich rette, und ich nicht beide retten kann. Der Münzwurf aber garantiert mir, daß ich keinen von beiden bevorzuge. - Der Vorschlag zur Lösung dieses Dilemmas beruht auf der Idee aus der Theorie des rationalen Handelns, daß, wenn zwei Handlungen relativ zueinander gleich gut sind, jede von beiden in gleicher Weise erlaubt ist.

Daß diese Situation überhaupt als moralisches Dilemma empfunden wird, scheint mir abwegig, beruht aber auf einer Anwendung deontischer Logik. Nach dem ersten Prinzip deontischer Logik ist, wenn eine Handlung A geboten ist und eine Handlung B geboten ist, auch die Konjunktion der beiden Handlungen geboten. Daraus folgt: Wenn es geboten ist, den einen Zwilling zu retten und es geboten ist, den anderen zu retten, dann ist es geboten, beide zu retten. Daraus leiten manche ab, daß wir entweder dieses (durchaus plausible) Prinzip der deontischen Logik aufzugeben gezwungen sind; oder wir müssen die Existenz moralischer Dilemmata anerkennen. Mir scheint aber der Fehler nicht in der deontischen Logik zu liegen, sondern in der Formulierung des Gebotenen: Es ist - in der beschriebenen Situation - nicht moralisch geboten, den einen der beiden Zwillinge zu retten, und unabhängig davon ist es geboten, den anderen zu retten, sondern es ist geboten, einen der beiden Zwillinge zu retten. Der Unterschied in der Formulierung ist, daß das letztere Gebot mehr von der Situation berücksichtigt, auf die es angewandt werden soll - und somit ist es ein rationaleres Gebot.

XI.4 Tragödien

(akt) anna:
(krazt ab)
franz:
schad

Ernst Jandl: mal franz mal anna (drama)


Als Standardbeispiele moralischer Dilemmata gelten die klassischen Tragödien. Tragik ist gerade durch den Umstand definiert, daß jemand (unverschuldet) in eine Situation gerät, in der er zu zwei Handlungen verpflichtet ist, die beide - unter einem bestimmten Gesichtspunkt - falsch sind. In den älteren Tragödien ist es so, daß das moralische Gebot deswegen verpflichtend ist, weil es göttlich ist, das heißt, ein Pochen auf Rationalität wäre kaum geeignet, den tragischen Konflikt zu lösen.

Orest zum Beispiel muß seine Mutter Klytaimnestra umbringen, weil diese seinen Vater ermordet hat - es ist ihm also geboten (Übe Rache! bzw. Stelle das Recht wieder her!), etwas Verbotenes (Du ermordest deine Mutter!) zu tun. Lapidarer Kommentar aus der Gegenwart: Das System moralischer Normen, dem Orest gehorcht, ist dringend verbesserungswürdig, denn es kennt nur unbedingte Pflichten.

HARE, wie wir ihn kennengelernt haben, würde den Konflikt Orests analysieren als einen Konflikt zweier prima-facie-Prinzipien. Prima-facie-Prinzipien können miteinander konfligieren, da sie nicht die letzte Entscheidungsinstanz sind. Doch ist es dann notwendig - um ein tragisches Ende vermeiden zu können -, die Ebene der intuitiven moralischen Beurteilung der Situation zu verlassen. Orest müßte sich fragen, welche der beiden Handlungen (Mutter töten oder sie leben lassen) ihm lieber ist und welche ihr. Außerdem müßte er die Präferenzen der Bewohner von Mykene mit in seine Überlegungen einbeziehen, die es vielleicht ganz gerne sähen, wenn die Mörderin des rechtmäßigen Herrschers bestraft würde, vielleicht aber auch sich bei der Befreierin vom Joch der Ungerechtigkeit bedanken. Vielleicht käme er auf die Idee, eine Gerichtsverhandlung einzuberufen, in der er der Kläger (nicht der Richter) ist - das wäre nach meinen Vorstellungen die moralisch richtige, d.h. beste Lösung des Konfliktes.

Ein anderes Beispiel aus der antiken Tradition ist das Drama „Antigone“ (Sophokles). Aber eigentlich ist dies gar keine Tragödie - denn die Hauptperson befindet sich nicht in einem tragischen Konflikt. Sie ist voll und ganz einverstanden mit dem, was sie tut, nicht von Zweifeln geplagt wie Orest. Es macht gerade die Faszination der Antigone aus, daß sie sich im (göttlichen) Recht weiß, gegen das das menschliche Recht des Tyrannen Kreon steht.

Weiter mit Kapitel 12.

1)
Anmerkung: So E.J. LEMMON in dem Aufsatz „Moral Dilemmas“, zuerst 1962 erschienen. Er unterscheidet darin zwischen „Verpflichtungen“ (obligations), „Pflichten“ (duties) und Prinzipien. Sie ergeben sich aus verschiedenen Quellen: Verpflichtungen geht man ein oder erwirbt man durch Gegenleistungen oder Verträge (z.B. ist ein Versprechen eine selbstauferlegte Verpflichtung), eine Pflicht besteht in Bezug auf einen bestimmten Status oder eine bestimmte Aufgabe (es ist meine Pflicht als Student, meine Zeit nicht zu vergeuden), ein Prinzip ist die übliche Form des moralischen Grundsatzes. - Diese Unterscheidung hat keine Bedeutung für das Argument und muß darum nicht auf ihre Plausibilität untersucht werden.
2)
Anmerkung: so Thomas NAGEL in „The Fragmentation of Value“, S. 177f., zuerst erschienen 1979 in dem Buch „Mortal Questions“. NAGEL unterscheidet in dem Aufsatz zum Beispiel zwischen Werten, die in der Erfüllung von Verpflichtung bestehen; die von Menschenrechten eingefordert werden (Freiheit usw.); Optimierungswerte (Nützlichkeit); Werte, die durch Vollendung Selbstzweck sind („Not everyone will agree that […] the performance of obscure or difficult orchestral works has any value apart from its worth to individuals who enjoy them […] But typically the pursuit of such ends is not justified solely in terms of such interests“(176
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